Er wollte als Held sterben. Für Führer, Volk und Vaterland. Es hätte ihm nichts ausgemacht, sein Leben früh zu verlassen. Wer als Held in den Tod geht, der hat doch für einen guten Zweck gelebt, nicht wahr? Hans Werk wird in den nächsten Wochen 80. Er ist quicklebendig, und abends im Bett denkt er daran, was er am nächsten Tag alles zu tun hat: rechtzeitig frühstücken, einkaufen, rasieren, sich schick machen für die Schule. Mindestens einmal in der Woche geht er in eine Bildungseinrichtung und erzählt Mädchen und Jungen aus seinem Leben. Nicht irgendetwas, sondern davon, wie sinnlos sein Leben war, als er noch an den Heldentod geglaubt hat. Hans Werk hat sich zur Waffen-SS gemeldet, jener vermeintlichen Elitetruppe im Zweiten Weltkrieg, die auch in Günter Grass' Biografie eine Rolle spielt. Damals war Hans Werk 17 und verblendet durch die Sprüche seiner Nazi-Lehrer. Wenn er in seiner Schulbank hockte, schaute er auf zwei Bilder: eines mit der Aufschrift »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« und auf ein Bild vom »Führer«. Er hat Buchenwald gesehen und Fliegerangriffe überlebt. Sein Freund ist direkt neben ihm von einer Bombe zerfetzt worden. Da hat Hans Werk zum ersten Mal eine Ahnung davon bekommen, was es heißt, einen Heldentod zu sterben. Heute denkt er nur an den Tod, wenn er danach gefragt wird. Vor einiger Zeit hat er es intensiv getan. Eine junge Frau war auf ihn zugekommen und hatte ihn um ein Interview über seinen Weg vom Nazi-Anhänger zum Sozialdemokraten und glühenden Verfechter der Demokratie gebeten, vom dummen Jungen, der das heilige Dahinscheiden ersehnt, zum Kämpfer für ein bewusstes und zielstrebiges Leben. An dieser Stelle auch über den Tod zu reden, konnte dabei nicht ausbleiben. Hans Werk hat keine Angst vor dem Sterben, jetzt nicht mehr. »Angst muss man nur haben, wenn man kein reines Gewissen hat«, sagt der Berliner. Macht sich Hans Werk Gedanken um den Tod, beschäftigen ihn ganz praktische Dinge: Formalitäten, die Grabstätte, wie soll die Feier aussehen. Wehmütig werde er nicht, sagt er, wenn er nach und nach alles auf die Reihe bringe. »Bis zu meinem 80. Geburtstag will ich alles erledigt haben.« Hans Werk ist einer von 16 Menschen, die im Buch »Es wird gestorben, wo immer auch gelebt wird«, kürzlich erschienen im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, ihre Sicht auf Sterben und Tod darlegen. Die Protokolle, aufgezeichnet von verschiedenen Autoren, sind keine weinerlichen und larmoyanten Texte, wie man sie in einer solchen Sammlung erwarten könnte und wie man sie zu Lebzeiten nicht lesen will, weil sie runterziehen und depressiv machen. Es sind Geschichten über den leisen, undramatischen und allmählichen Abschied vom Leben, mitunter heiter und beschwingt. »In der Regel wird der Tod zelebriert«, sagt Herausgeberin Katrin Rohnstock. Mit Begräbnis, Feier, Totenschmaus. »Das ist schade. Sinnvoller wäre es, die Zeit des Sterbens zu bedenken.« Also jene Wochen und Monate zu inszenieren, die dem Tod vorausgehen. Katrin Rohnstock ist nicht zufällig auf die Buchidee gekommen. Als Inhaberin des Büros Rohnstock Biografien, das sich auf das Verfassen von Autobiografien fremder Menschen spezialisiert hat, hat sie seit Jahren mit dem Tod zu tun. Die Interessenten eines Buches über das eigene Leben finden in der Regel dann den Weg zu Rohnstock nach Berlin, wenn sie die Endlichkeit der eigenen Existenz spüren und die irdische Welt nicht verlassen wollen, ohne Kindern und Enkelkindern mehr zu hinterlassen als alte Kommoden, Geschirr und Bleikristall. Im Büro Rohnstock arbeiten sogenannte Autobiografiker, die sich einen Tag lang mit den Protagonisten hinsetzen und ihnen Fragen zu ihrem Leben stellen. Meist aber müssen sie das gar nicht tun, denn es sprudelt aus den Alten nur so heraus. Dabei entstehen Tonbandaufnahmen voller Lebendigkeit und Farbe. Und mit allen Facetten eines Fast-Jahrhunderts: Liebe und Schmerz, Freude und Abschied, Ewigkeit und Tod. Dann bringen die Autobiografiker das Ganze in eine literarisch verdichtete Form, es entsteht eine Geschichte mit Anfang und Ende und rotem Faden. Manche Bücher enthalten Fotos und sind regelrechte Schmöker, andere begnügen sich mit einem Dasein als schmale Bändchen. Wie die Menschen sich im Leben gezeigt haben, so verbleiben sie auch nach ihrem Ableben. Für ihre Nachkommen, ganz privat. Privat ist das Buch »Es wird gestorben, wo immer auch gelebt wird« auch. Natürlich, denn was sonst ist intimer und heiliger als Tod und Geburt. Doch der Band greift weiter und reicht tief in unsere Gesellschaft hinein. Fast alles ist heute enttabuisiert, Liebe, Freundschaft, Geld, Sex. Der Tod ist es nicht. Das Buch bringt ihn auf eine Weise ins Gespräch, so dass er seine Unheimlichkeit und seinen Schrecken verliert. Der Tod gehört zum Leben dazu - wie oft wird dieser Satz gesagt. Doch wahrhaft angenommen wird er selten. Die Protokolle versuchen, das Sterben ins Leben zurückzuholen. Vor zwei Jahren hat das Büro Rohnstock Briefe an ältere Frauen und Männer mit der Anfrage für ein Interview über Sterben und Tod verschickt. Als eine der ersten Antworten kam die einer 95-Jährigen: »Ich erteile Ihnen einen Korb, weil ich keinen Gedanken an den Tod verschwende, sondern daran denke, was ich noch alles machen will.« Wichtig ist, sich zu verabschieden, hat die Autobiografikerin Sabine Schulz erfahren. Sie ist 41 und - so denkt man - vom Tod weit entfernt. Aber sie hat sich lange damit beschäftigt, sie hat das Leben von Käthe Schwesig aufgeschrieben. Sogar zwei Mal. Vor fünf Jahren auf 500 Seiten als Autobiografie und jetzt als »Sterbe«- Geschichte. Als die Brandenburgerin Käthe Schwesig glaubte, alles in ihrem Leben gemacht und gesagt zu haben, als auch das Buch für die Familie auf ihrem Tisch lag, wollte sie sich verabschieden. Doch niemand wollte sie gehen lassen, die Familie nicht, und auch nicht die Leute aus dem Dorf. Die Gemeindepastorin bettelte: »Lasst mich doch sterben. Mein Leben war schön, aber nun lohnt es nicht mehr.« Die 87-Jährige hatte nicht mit den Tricks der anderen gerechnet, vor allem aber nicht mit ihrer eigenen Kraft und dem eisernen Lebenswillen, der irgendwann wie mit leiser Stimme zu ihr sprach: »Na, dann mal los.« Da stand sie wieder auf und ist seitdem munterer als so manche 60-Jährige. Auf den Tod indes ist sie vorbereitet: »Ich wünsche mir, dass ich drei Tage vorher weiß, wann ich sterben werde. Damit ich das, was mir noch als ungelöst bewusst ist, bereinigen kann und ich in Frieden gehe.« Dorit Schwesig, die Enkelin, hat einen großen Anteil daran, dass die Großmutter heute noch lebt. Die Krankenschwester auf einer Palliativstation begegnet dem Tod täglich, also sagte sie damals zur Oma: »Wenn du sterben willst, ist es gut. Es ist dein Leben.« Vielleicht waren es Worte wie diese, die Käthe wieder aufrichteten, die so etwas wie Trotz in ihr produzierten. Vor 20 Jahren, da war sie 67, hat sie ihren Hausstand zum ersten Mal unter den Kinder und Enkelkindern aufgeteilt, pro forma, damit es später keinen Streit gibt. Heute sagt sie: »Es ist schön zu wissen, in welchem Wohnzimmer welche Vase stehen wird.« Die 16 Frauen und Männer im Buch sind nicht anders als andere Menschen in hohem Alter. Sie sind vielleicht nur ein bisschen mutiger, weil sie offensiv mit dem eigenen Ableben umgehen. Die eine oder den anderen haben auch Fragen gequält wie: Falle ich meinen Angehörigen zur Last? Wie kann ich vermeiden, dass ich ihnen durch Pflege und Zuwendung Zeit und Kraft raube? So manche Alte gehen ihren Kindern gerade deswegen auf die Nerven, weil sie solche Dinge zielgerichtet aus der Kommunikation ausklammern und glauben, sie können sich so um diese Dinge herummogeln. Das ist ein großer Trugschluss. Je offener die Probleme des Alterns und des Sterbens angesprochen werden, um so leichter fällt es allen. In Kamerun gibt es ein Ritual, das hierzulande undenkbar wäre: In dem afrikanischen Land werden die Toten unter der Eingangstür begraben. So rückt der Tod wahrhaftig an das Leben heran, so begrüßen die Lebenden die Toten und umgekehrt. Und das jeden Tag aufs Neue. Katrin Rohnstock (Hrsg.) Es wird gestorben, wo immer auch gelebt wird. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, 221 Seiten, Broschur, 12,90 EUR.
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