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Stabiler Antifaschismus im Kinderzimmer
Harry Potter und die unwiderstehliche Magie des Widerstandes
Vor 20 Jahren veröffentlichte der Carlsen-Verlag in Deutschland ein Buch mit dem Titel »Harry Potter und der Stein der Weisen«. Die siebenteilige Reihe der Schriftstellerin Joanne K. Rowling erzählt die Geschichte eines Waisenjungen, der zu Beginn seines Lebens unter einer sadistischen Stieffamilie arg leiden muss. Erlöst wird er von der Nachricht, dass er ein Zauberer ist und auf das magische Internat Hogwarts aufgenommen wird. Das Jubiläum feiert der Verlag mit einer Neuausgabe der gesamten Harry-Potter-Serie, mit neuem Cover ausgestattet und einer Lesung mit Rufus Beck, dem Sprecher der sehr bekannten Hörbuchadaption.
Nur: Warum zur Hölle steht das bitte im »nd«?! Nun, da ist erst einmal der ökonomische Erfolg der Reihe. Seit seiner Veröffentlichung steigen die Verkaufszahlen der Reihe schneller als es aufschreibbar ist. Die Veröffentlichung des siebten Bandes ist so erfolgreich, dass die Verkaufszahlen in Sekunden angegeben werden mussten. Die Literaturwissenschaftlerinnen Ina Karg und Iris Mende schreiben: »Während der ersten beiden Stunden des Verkaufs gingen in den Buchhandlungen der britischen Kette Waterstones 10.000 Exemplare über den Ladentisch, der Konkurrent WH Smith spricht von 15 Bänden pro Sekunde, was die Verkaufsgeschwindigkeit des vorherigen Bandes von 13 Exemplaren in der Sekunde noch übertroffen hat.«
Eine Studie des Markforschungsinstituts teleResearch gibt an, dass über ein Viertel der Deutschen über 14 und 54 Prozent der befragten Deutschen, mindestens ein Buch der Reihe gelesen haben. Ein Fünftel aller Kinder hierzulande hat sogar alle sieben Bände gelesen. Und das obwohl Lesen gerade eben noch als »out« galt. Neben dem Kerngeschäft, den Büchern, kommt ein ganzes Marktimperium hinzu. Merchandising, Filme, mehrere Beibände und ein Theaterstück. Die Erziehungswissenschaftlerin Melanie Babenhauserheide schätzt die Zahl der Menschen weltweit, die sich mit dem Zauberlehrling befasst haben, mit einem Augenzwinkern ähnlich hoch wie das Vermögen im Geldspeicher von Dagobert Duck: »Neun Fantastillionen, vier Milliarden Jillion Zentrifugalillion«.
Reichweite haben diese Bücher also. Grund genug zu fragen, ob die Inhalte der Reihe eigentlich emanzipatorische Grundeinstellung vermitteln oder nicht. Der Streit ist dabei so alt wie die Reihe selber. Ein Teil der linken Intelligenzia verteidigt das Werk: Sie finden Anleihen an den europäischen Faschismus und den Widerstand dagegen. Lord Voldemort, der dunkle Protagonist der Reihe erscheint als diktatorischer Führer, der danach trachtet, die Welt rassenideologisch zu sortieren. Reinblütige Familien sollen wieder die Oberhand gewinnen über eine Gesellschaft, die sie von Mischehen zwischen Zauberern und Nicht-Magiern, sogenannten »Schlammblütern« degeneriert sehen. Im Kampf gegen seine zweite Schreckensherrschaft befindet sich eine kleine Widerstandsgruppe, die auf klassische Mittel des Guerillakampfes setzt: Ein Piratensender, der als einziges Medium über die rassistischen Übergriffe Voldemorts berichtet. Eine Struktur, in der Geheimnisse immer nur an Einzelne weitergegeben werden, damit im Falle einer Aufdeckung, nicht alle Widerstandskämpfer gleichzeitig fallen.
Auch die Gerichtsprozesse nach der ersten Schreckensherrschaft Voldemorts zeigen Parallelen mit der Aufarbeitung des Faschismus in Europa auf. Da werden Menschen milde verurteilt, die ihre Mittäterschaft an den Morden von nicht »reinblütigen« Menschen verschleiern. Auch von dem wahren Tun des Voldemort-Regimes will niemand etwas gewusst haben. Die historische Vorlage für die Reihe findet sich im Kampf gegen den europäischen Faschismus, die moralische Botschaft ist eindeutig: »Dass sich so etwas nie wiederhole«. Dabei sind manche Analogien durchaus nicht oberflächlich gedacht, in der Beschreibung der Unfähigkeit des faschistischen Führers, seine eigene Vergänglichkeit zu akzeptieren, dargestellt durch Voldemort, der seine Seele in verschiedene Stücke aufteilt, um dem Tod zu entgehen, findet sich durchaus ein gewisses Reflexionsniveau im Nachdenken über das Wesen des Faschismus.
Doch es gibt auch Kritik an der Reihe. Die kritische Erziehungswissenschaftlerin Melanie Babenhauserheide, die in ihrem Buch »Harry Potter und die Widersprüche der Kulturindustrie« so etwas wie einen Klassenaustausch zwischen Hogwarts und der kritischen Theorie organisiert hat, begründet den Anfang ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Potter-Bänden damit, dass sie auf Inkonsistenzen gestoßen sei: »In der magischen Welt können scheinbar Gebrauchsgegenstände aus dem Nichts heraufbeschworen werden, dennoch gibt es dort Armut, Lohnarbeit, Geld und Warentausch«. Harry-Potter-Kenner werden nun sofort auf Gamps Gesetz der elementaren Transfiguration verweisen: Es gibt Ausnahmen, nicht alle Dinge können aus dem Nichts in etwas Gegenständliches verwandelt werden. Mit Nahrung ist dies zum Beispiel nicht möglich. Trotzdem gibt es keinen logischen Grund, warum die arme Weasley-Familie in einer Bruchbude lebt, während der kosmische Gegenspieler von Harry Potter, Draco Malfoy, mit seiner Familie auf einem großen Landgrundstück haust. Babenhauserheide schreibt: »Wenn solche Inkonsistenzen nicht darauf reduziert werden können, ein Fehler der Autorin oder des Lektorats zu sein, der entfernt werden müsste, sondern überindividuell eine Blindstelle anzeigen, so liegt die Frage nahe, inwiefern und auf welche Weise die gesellschaftliche Irrationalität, die sich in Ideologien ausdrückt, die Grenzen der Logik – auch im Sinne des Postulats der Widerspruchsfreiheit – auf eine Weise sprengt, die zumindest teilweise der bewussten Wahrnehmung entgeht.«
Die Kritik, dass bestimmte Herrschaftsverhältnisse in Harry Potter unbewusst fortgeschrieben werden, lässt sich erweitern. Es gibt zwar durchaus eine gewisse Diversität auf der Hogwarts-Schule – es finden sich jüdische Charaktere und verschiedene Nationalitäten – trotzdem sind die Frauenrollen sehr klassisch konstruiert und auch dass J.K. Rowling später Albus Dumbledore als bisexuell tituliert, ändert nichts daran, dass es nur heterosexuelle Liebesbeziehungen gibt. Dass ein mächtiger Zauber der Mutter Harry Potters den Faschisten Voldemort zu Fall bringt und nicht das neugeborene Baby, geht J.K. Rowling ebenso im Laufe ihrer eigenen Geschichte abhanden.
Die Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt eines solchen Textes impliziert natürlich auch die Frage nach dem Rezipienten. Gerade bei Literatur, die sich wie die Potter-Reihe vordergründig an Jugendliche richtet, wird oft kritisiert, dass sich hier Ideologie über schutzlose Kinder lege. Eine solche Sichtweise reduziert Jugendliteratur zum reinen und unmündigen Objekt der Erziehung. Kritik davon kam bereits 1974 von Heinz Hengst in einem Aufsatz über emanzipatorische Belletristik für Kinder: »Bilden ästhetische und informierende Momente keine Einheit, wird das Ästhetische zum bloßen Transportmittel von Erkenntnissen degradiert, dann verhindert bzw. neutralisiert es den aufklärerischen Impuls.«
Dass Jugendliche durchaus in der Lage sind, als kritische Rezipienten über das Material hinaus zu denken, beweist die Fülle an Geschichten, die als sogenannte Fan-Fiction in der magischen Welt von Harry Potter situiert sind. Da gibt es queere Liebesgeschichten, Storys über das Aufwachsen von Trans-Teenies oder Weitererzählungen über den antifaschistischen Widerstand.
Aber auch wenn man mit der klassischen Gut-und-Böse-Schablone an das Buch herangehen will, schneidet es nicht so schlecht ab, wie oft behauptet. Die Rollen sind durchaus ambivalent konstruiert. Harry Potter befindet sich in einem permanenten Konflikt gegen dunkle, unterbewusste Anteile seiner Persönlichkeit. Sein Kompagnon Ron Weasley tötet einmal fast seinen Gegner. »Sie würden das Gleiche mit uns tun«. Und der am Anfang oberböse Snape wird zum wohl größten Helden der Geschichte. Trotzdem gewinnt am Ende natürlich das Gute, das Antifaschistische und Unangepasste.
Und alles war gut.
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