Brexit: Jeder gegen jeden

Die Countdown der Verhandlungen zum Austritt Großbritanniens aus der EU hat begonnen

  • Gabriel Rath, London
  • Lesedauer: 3 Min.

Die britische Premierministerin Theresa May gerät von allen Seiten unter Druck: In ungekannter Deutlichkeit lehnte am Montag EU-Chefverhandler Michel Barnier die britische Position zu den künftigen Wirtschaftsbeziehungen »in aller Schärfe« ab. Zugleich wurde das sogenannte Chequers-Papier auch von Ex-Außenminister Boris Johnson in der Luft zerrissen: Es komme einer Kapitulation gleich und werde das Land in eine Katastrophe führen, meinte der konservative Politiker. Der einzige Trost für May lautet wohl: Viel Feind, viel Ehr.

Ansonsten scheint zum Auftakt der Endphase der Brexit-Verhandlungen eine Einigung in weiter Ferne. May beendete die politische Sommerpause mit drohenden Worten und warnte, sie werde »keinen Kompromiss« eingehen. Das Chequers-Papier sei ein »pragmatischer und praktikabler« Entwurf. Umgehend erklärten prominente Konservative wie der frühere Brexit-Minister David Davis, sie würden »mit Sicherheit gegen Chequers« stimmen. Der Plan sieht einen Verbleib Großbritanniens im Binnenmarkt für Güter, die Vermeidung einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland und eine Anerkennung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vor.

In dem Bemühen, es allen recht zu machen, hat es May geschafft, eine Position zu finden, die von allen abgelehnt wird. Für die EU-Seite stellte Barnier klar: »Die Briten haben die Wahl. Sie können im Binnenmarkt bleiben wie Norwegen, aber dann müssen sie auch die entsprechenden Regeln übernehmen und Beiträge leisten. Aber wenn wir den Briten erlauben, sich die Rosinen aus unseren Bestimmungen auszuwählen, hätte das ernste Folgen.« Die aktuelle Position Londons würde das Ende der europäischen Integration und des Binnenmarkts bedeuten und werde daher von Brüssel abgelehnt.

Von der umgekehrten Betrachtungsweise kommt auch Brexit-Hardliner Johnson zu demselben Schluss. »Chequers bedeutet, mit gehisster weißer Fahne in die Schlacht zu ziehen«, schrieb er am Montag. In den Verhandlungen sei alles gegen die Briten ausgerichtet, die Einigung auf eine Austrittszahlung von 40 Milliarden Pfund sei »Zahlung für einen Haufen Schrott« gewesen, und Johnsons Schluss aus 18 Monaten Brexit-Gesprächen lautet: »Nicht der Brexit ist gescheitert, sondern wir haben es gar nicht erst versucht.«

Damit wächst die Gefahr, dass Großbritannien am Stichtag, dem 29. März 2019, ohne Vereinbarung aus der EU ausscheidet. Eine ebenfalls am Montag veröffentliche Untersuchung des Think Tanks »UK in a Changing Europe« rechnet für diesen Fall mit »chaotischen und schwerwiegenden« Folgen: »Wir sollten uns nichts vormachen: Zumindest vorübergehend würde es zu gewaltiger Unsicherheit und schweren Störungen kommen«, meinte Studienleiter Anand Menon vom Londoner King´s College.

Unmittelbare Konsequenzen eines »Chaos-Brexit« wären ein weiterer Kursverlust des Pfund, ein Ansteigen der Importpreise und der Verlust an Lebensstandard durch Inflation. Besonders betroffen wären integrierte Sektoren wie die Autoindustrie, Luftfahrt und Dienstleistungen. Berechnung des Schatzkanzleramtes, wonach ein derartiges Ausscheiden aus der EU in den kommenden Jahren die britische Wirtschaft 7,7 Prozent Wachstum und den Steuerzahler 80 Milliarden Pfund kosten wird, teilt die Studie. Die Autoren schreiben: »Die kurzfristigen Folgen werden überwiegend negativ sein.«

Brexit-Hardliner argumentieren gegen die Warnungen vor einem EU-Austritt ohne Vereinbarung, dass in diesem Fall die Regelungen der Welthandelsorganisation WTO gelten würden. Die Studienautoren meinen aber: »Es gibt weder eine Verpflichtung noch einen Anreiz für die EU, Großbritannien entgegenzukommen. Im Gegenteil: Eine Sonderbehandlung für Großbritannien würde andere Drittländer auf den Plan rufen.«

Neben den Inhalten gerät zunehmend auch der Zeitplan für den Brexit ins Wanken. Die für Mitte Oktober angepeilte Vereinbarung mit der EU gilt mittlerweile als praktisch ausgeschlossen, nun wird von britischer Seite bereits von November gesprochen. Eine Einigung in letzter Sekunde käme der Regierung nicht ungelegen: Je später ein Abkommen vorliegt, desto weniger Zeit bleibt dem Parlament, es zu zerpflücken.

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