• Politik
  • "Aufstehen" und Wagenknecht

Streit um linke Moral

»Aufstehen« sammelt und spaltet - nicht Parteien, sondern linke Meinungslager

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 5 Min.

Fast am Ende der Sendung hält eine Studentin das Mikrofon in der Hand. Sie sei Juso-Mitglied, sagt sie im Saal des Berliner Kinos Babylon, wo die Gesprächsrunde zu Ende geht, zu der Inforadio vom rbb geladen hatte. Sahra Wagenknecht habe sie zu ihrer eigenen Überraschung bisher überzeugt, so die junge Frau. Doch es bleibe die Angst, dass die Sammlungsbewegung »Aufstehen« doch eine fortschrittsfeindliche Bewegung werden könnte, für Rassisten und Leute, die Freiheitsrechte geringschätzen.

Der Frage ist eine bisweilen erregte Debatte vorausgegangen. Auf dem Podium mäandert der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert zwischen Ablehnung und dem Eingeständnis, dass »wir in vielen Punkten ganz nahe beieinander sind«. Das ist das Problem hörbar auch vieler Menschen im gut gefüllten Saal. Beifall wechselt sich mit Unmut ab, Zustimmung mit empörter Ablehnung.

Die meisten Punkte im Gründungsaufruf seien ohnehin Konsens, bekundet Kühnert. »Wir sind keine politischen Gegner!« Aber die »Strategie« findet er falsch, und damit meint er sie persönlich - Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht. Damit sei das Projekt ähnlich unglaubwürdig, wie wenn Olaf Scholz eine Sammlungsbewegung gegründet hätte. Olaf Scholz, SPD-Bundesfinanzminister und seit Jahren ausgemachter Vertreter der Agendapolitik der SPD, scheint den meisten Anwesenden offenbar nicht der passende Vergleich zu sein. Nicht, wenn man das Anliegen der Sammlungsbewegung bedenkt - die Parteien der linken Mitte unter Druck zu setzen, um für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Man könne, so Kühnert, mit Lafontaine im Hintergrund wegen seines Verhältnisses zur SPD keinen gestandenen SPD-Genossen auf seine Seite bringen.

»Sie reden wie ein ganz, ganz alter Funktionär«, wundert sich da Jakob Augstein, Publizist und Herausgeber der Wochenzeitung »Freitag«, über die Befindlichkeiten des jungen Mannes. Sahra Wagenknecht nimmt Kühnerts Idee, als Initiatorin der Bewegung wäre ihr Platz besser in der zweiten Reihe, höflich zur Kenntnis. Sie wolle die SPD in keine Zwangslage bringen, beteuert sie.

Dass sie ihre eigene Partei in eine Zwangslage bringe, wird Wagenknecht in den letzten Monaten noch heftiger vorgeworfen. Doch den Vorwurf der Spaltung findet sie »billig«. Wenn das ihr Ziel wäre, würde sie nicht extra eine Bewegung gründen. Die LINKE, so die Fraktionsvorsitzende im Bundestag, sei 2007 aus WASG und PDS gerade deshalb gegründet worden, die SPD unter Druck zu setzen und zu linken Positionen zu bewegen. Das sei letztlich misslungen. Und das habe etwas damit zu tun, dass die LINKE Parteikonkurrenz der SPD war, nicht auf ihr Verständnis hoffen konnte. Das sei bei einer Bewegung wie »Aufstehen« anders.

Kühnert schlussfolgert haarscharf, dass die SPD »primärer Zielpunkt« der Sammlungsbewegung ist. Damit hat er sicher recht. Dann müsse man auch die Befindlichkeiten von Sozialdemokraten berücksichtigen, schlägt er den liegen gebliebenen Ball an Jakob Augstein zurück. Dieser hat freilich ein einfaches und zugleich wirksames Argument auf seiner Seite: Wenn der Gründungsaufruf sowieso linker Konsens sei, wie Kühnert behauptet, »wenn die SPD das alles will, warum macht sie es dann nicht?«

Kühnerts Problem ist ein anderes. Und es bewegt auch viele Zuhörer im »Babylon«, wie an den Reaktionen und auch in den Bemerkungen der Studentin am Ende der Sendung abzulesen ist. Nämlich die Sorge um jene moralischen Werte, die die Linke der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten eingepflanzt hat. Geschlechtergerechtigkeit, Minderheitenrechte und - ja - die Solidarität mit Flüchtlingen und Migranten. Der Vorwurf eines »überbordenden Moralismus«, den die Vertreter der Sammlungsbewegung hier erhöben, werde als Angriff empfunden, so Kühnert. »Identitätspolitik« nennt er das Problem. Und er insistiert: »Moral ist positiv!«

Gegen Moral argumentiert es sich schlecht. Hier reicht es offenbar nicht wie Augstein festzustellen: Die Sammlungsbewegung sei selbst eine zutiefst moralische Bewegung. Hier geht es um die Frage nach dem gültigen Koordinatensystem der Linken, darum, ob die soziale Frage, die für die Sammlungsbewegung Ausgangspunkt aller Überlegungen ist, oder nicht vielmehr ein Konglomerat an Werten im Zentrum steht, die sich die linke Bewegung zugute hält. Kühnert erinnert spöttisch an frühere Zeiten, in denen von Grundwiderspruch und Nebenwidersprüchen die Rede war. Das sei zum Glück vorbei. Dafür sei der Kampf zwischen Rassismus und Antirassismus ein realer. Wer zu einer Demo in Chemnitz gehe, wo der Hitlergruß gezeigt werde, habe sich entschieden. »Jeder ist doch Herr seiner Sinne!«

Wagenknecht wirbt um Kühnert. Im Gründungsaufruf sei die Ablehnung von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass klar formuliert. Ein endloser Streit um die Flüchtlingsfrage werde dazu führen, dass beide Seiten keine Chance haben - wenn die Rechten sich durchgesetzt haben. »Ohne Sozialabbau kein Chemnitz!« Kühnert empfindet das als ein »Bemuttern« von Rassisten. Doch Wagenknecht spricht hier von einer Chiffre. Gegen Nazis in Chemnitz und anderswo müsse der Staat vorgehen. Aber die Menschen, die die AfD wählten, müsse man zurückgewinnen. Dafür müsse man ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen.

Für Paul Nolte scheinen die Dinge einfacher zu liegen. Bei aller Sympathie für »Aufstehen« hat er seine Zweifel, denn: »Hier wird Klassenpolitik gemacht.« Die Grünen seien ausgeklammert, sonst hätte man etwas zu Geschlechtergerechtigkeit in den Aufruf geschrieben. Zugleich würde er sich freuen über eine »Partei neuen Typs«, sagt er unter Verwendung des alten Klassenkämpfers Lenin. Vor allem aber werde die Bewegung an den Rand ihrer Möglichkeiten geraten, wenn sie sich nicht schnell als Teil des Parteiensystems definiere. Denn über die Parlamente nur sei Machtpolitik möglich.

Der Druck werde die Parteien verändern, »wenn wir immer mehr sind«, zeigt Wagenknecht sich zu »100 Prozent« überzeugt. Und der jungen Frau von den Jusos antwortet sie unter Verweis auf die Feministin Nancy Fraser. Die Freiheitsrechte seien ein Sieg und müssten verteidigt werden. Doch die Menschen hätten den Sozialabbau der letzten Jahre quasi im Gleichklang mit den Erfolgen der Linken bei den Freiheits- und Minderheitenrechten erlebt. Und nun lehnten sie es gemeinsam ab. »Der Neoliberalismus muss überwunden werden«, so Wagenknecht. »Sonst gehen mit dem Sozialen auch die Freiheitsrechte den Bach herunter.«

Die Forum-Sendung wird im Inforadio des rbb am Sonntag 11:04 und 20:04 Uhr gesendet.

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