Aufstehn, aufeinander zugehn?

Wagenknechts Initiative kann die antirassistischen Straßenproteste nicht ignorieren, wenn sie zu einer Bewegung werden will

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 6 Min.

»Spätestens die Ereignisse in Chemnitz haben deutlich gezeigt, dass es so nicht weitergehen kann«, sagte die Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht am Dienstag bei der Vorstellung der von ihr mitinitiierten Sammlungsbewegung »Aufstehen« in der Bundespressekonferenz. Nur einen Tag zuvor hatten in Chemnitz rund 65 000 Menschen das Konzert »Wir sind mehr« besucht, um nach rassistischen Ausschreitungen in der Stadt ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit zu setzen. Zwei Tage zuvor demonstrierten in Hamburg 15 000 Menschen, um die Aufnahme von Flüchtlingen und die Entkriminalisierung von Seenotrettern zu fordern. Und wiederum wenige Tage zuvor folgten 8000 Menschen, deutlich mehr als erwartet, einem spontanen Aufruf und protestierten in Berlin-Neukölln gegen Rassismus.

Wegen dieser Gleichzeitigkeit der Geburt von »Aufstehen« und dem Anwachsen antirassistischen Protestes lag am Dienstag eine offensichtliche Frage im Raum der Bundespressekonferenz: Waren bei diesen Protesten auch Mitglieder der linken Sammlungsbewegung dabei? Wagenknecht erklärte den nachhakenden Journalisten, sie sei während des Konzertes in Chemnitz zeitlich verhindert gewesen. Die »Aufstehen«-Unterstützerin Simone Lange (SPD) zeigte sich empört. Als Oberbürgermeisterin von Flensburg habe sie zu diesem Zeitpunkt eine »Seebrücke«-Demonstration besucht. Andere prominente Politiker wären hier schließlich auch nicht gewesen.

Diese kleine Szene war nicht das Abbild einer »albernen Diskussion«, wie Wagenknecht abwiegelte, sondern wirft wichtige Fragen auf. Der Rechtsruck setzt sich in Deutschland fort, seit einigen Wochen sammeln sich aber auch verschiedene linke und zivilgesellschaftliche Strömungen für einen organisierten Widerspruch. Zum Teil mit dem Anspruch, über die jeweilige Szene hinaus neue Mitstreiter zu gewinnen, vielleicht gar eine Bevölkerungsmehrheit. Doch wie beziehen sich diese Projekte aufeinander? Welche verschiedenen Zielgruppen haben sie? Gibt es Gegnerschaft, Überschneidungspunkte, die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit? Fördert man mit der aktuellen Dynamik Spaltung oder läuft es auf pragmatische Arbeitsteilung hinaus? Und auch wenn man sich gegenseitig abgrenzt: Beeinflusst man sich nicht dennoch gegenseitig?

Zuerst ein kurzer Überblick: Seit Juni gehen Zehntausende bundesweit unter dem Motto »Seebrücke« auf die Straßen, im Juli demonstrierten in München 20 000 gegen die CSU-Politik, im Mai 70 000 in Berlin gegen die AfD, im April 25 000 in Berlin gegen hohe Mieten. Dazu protestierten in den vergangenen Monaten in verschiedenen Städten Zehntausende gegen neue repressive Polizeigesetze, und nicht nur im Hambacher Forst gab es Aktionen gegen den Kohleabbau. Ende September plant die antirassistische Bewegung in Hamburg die »Welcome United«-Parade, 20 000 Teilnehmer werden erwartet. Für Mitte Oktober hat das »unteilbar«-Bündnis eine Großdemonstration für eine »offene, freie und solidarische Gesellschaft« in Berlin angekündigt. Mehrere Zehntausend Teilnehmer sollen kommen. Diese Proteste haben ohne Frage Dynamik, sind aber vor Widersprüchen nicht gefeit. Politiker, die in regionaler Regierungsverantwortung Abschiebungen mitzuverantworten haben, gehen für solidarische Städte auf die Straße; Parteien, die sonst scharfe Überwachungsmaßnahmen mittragen, rufen zum Widerstand gegen repressive Polizeigesetze auf. Die soziale Frage kommt bisher nur am Rande vor.

Zum anderen versucht eine Gruppe von etwa 80 Politikern, Gewerkschaftern und Künstlern eine linke Sammlungsbewegung von oben zu initiieren. Dies entspricht nicht dem linken Ideal, kann aber durchaus Erfolg haben. Neben Wagenknecht und Lange sind beispielsweise der frühere Grünen-Chef Ludger Volmer, der SPD-Abgeordnete Marco Bülow und der frühere Linksparteichef Oskar Lafontaine beteiligt. Im Vordergrund des Projektes »Aufstehen« sollen »klassische« soziale Themen stehen. Antirassismus und der Kampf um Frauenrechte werden nicht abgelehnt, sollen aber kein Schwerpunkt sein. In einem früheren Konzeptpapier namens »Fairland« gab es stärkere nationalistische Töne, diese wurden jedoch mittlerweile abgeschwächt oder entfernt. »Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Ausländerhass haben in unserer Bewegung nichts zu suchen«, erklärte Wagenknecht am Dienstag. Einzelne prominente Unterstützer von »Aufstehen« mögen dabei in realen Bewegungen aktiv sein - in der Masse oder als Projekt sind sie bisher in diesen nicht durch praktische Politik, längerfristige Verankerung oder positive Statements aufgefallen.

Das Programm von »Aufstehen« ist noch vage, aber Äußerungen der Politiker zufolge kann man wohl von einer linkssozialdemokratischen Umverteilungspolitik auf nationalstaatlicher Ebene in Kombination mit konservativerer Migrations- und Geflüchtetenpolitik ausgehen. Ziel von »Aufstehen« ist es auch, eine neue Regierung zu bilden. Auf SPD, Grüne und Linkspartei soll von außen Druck ausgeübt werden, im Falle der Linkspartei werden dabei etwa Beschlüsse zum Thema Migration umgangen. Kritiker befürchten durch dieses Vorgehen eine Spaltung des linken Lagers. Über 100 000 Menschen haben sich auf der Projekt-Webseite eingetragen - nicht jeder davon kann als »Unterstützer« gelten. Eine Basis muss erst noch aktiviert werden. Soziale Straßenproteste durch eine solche Basis sind momentan nicht sichtbar, aber sicherlich möglich. Die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV ab 2004 zeigen das Potenzial. Wohnungsnot, Freihandelsabkommen oder Arbeitskämpfe in der Pflege und im Einzelhandel sind brennende Themen.

Mit seiner Ansprache und der Ausrichtung kann »Aufstehen« möglicherweise eine Lücke füllen. Zahlreiche Aktivisten und bewegungsnahe Linksparteimitglieder leisten in verschiedensten Initiativen beeindruckende Arbeit, und doch können bestimmte Milieus nur schwer erreicht werden. Enttäuschte, Resignierte und wertkonservative Menschen, Unentschlossene, die schwanken, ob sie angesichts der Ohnmacht nach unten oder oben treten sollen. Jene, die nach Solidarität und Veränderung streben, aber bisher nichts sehen, mit dem sie dies erreichen könnten. Leute, die eher Julia Neigel und Nina Hagen anstatt Feine Sahne Fischfilet und K.I.Z. hören. Solche, die in der Seebrücke ihre eigenen Probleme nicht wiederfinden, aber auch (noch) kein geschlossenes rassistisches Weltbild haben.

Kurzfristig kann man solche Menschen sicher mit einer medienbasierten Kampagne und charismatischen Führungsfiguren begeistern. »Aufstehen« wird sich daran messen lassen müssen, ob es die so Aktivierten dann nur an die Wahlurne bringt oder sie in ihren Wohnvierteln und Betrieben auch organisieren will. Kollektive Ermächtigungserlebnisse sind nur durch Letzteres wahrscheinlich. Dafür müsste sich das Projekt mit den Erwerbsloseninitiativen, Mietervereinen, Jobcenterberatungen, Gewerkschaften, mit den Tafeln und Sozialverbänden vernetzen. Orte, an denen viele Linksparteipolitiker übrigens schon lange aktiv sind. Wenn es wie bei den Essener Tafeln Fälle von tendenziellem Rassismus gibt, wird das Projekt Farbe bekennen müssen.

Selbst wenn die verschiedenen Mobilisierungen sich weiterhin voneinander abgrenzen, sind gegenseitige Einflussnahmen anzunehmen. Die Wandlung von »Fairland« zu »Aufstehen« war auch eine Reaktion auf die Stärke der »Seebrücke«-Bewegung. Falls die Kämpfe für Antirassismus, Bürger- und Menschenrechte ihre Dynamik beibehalten, wird »Aufstehen« dies auch zukünftig kaum ignorieren können. Gleichzeitig wird durch den Druck von »Aufstehen« vielleicht auch das linksliberale Milieu die soziale Frage verstärkt auf die Tagesordnung setzen. Die Erwähnung der Umverteilung von unten nach oben, fehlender Investitionen und von Niedriglöhnen in dem Aufruf vom »unteilbar«-Bündnis ist hier bereits ein interessanter Anfang.

Falls sich »Aufstehen« etablieren sollte, wird es vermutlich innerhalb der gesellschaftlichen Linken eine liberale Gegenbewegung geben. Im besten Fall würde die Bundesrepublik dann von der produktiven Auseinandersetzung zwischen den Polen eines linksliberalen, emanzipatorischen, bewegungsnahen Milieus und eines linken, reformerischen, wertkonservativen Milieus dominiert, statt wie aktuell von der Auseinandersetzung zwischen Neoliberalismus und völkischem Nationalismus. Im schlechtesten Falle zerreibt man sich weiter gegenseitig - und die Rechte gewinnt noch mehr Einfluss. Um dies zu verhindern, ist ein progressives Bündnis nötig, das viele unterschiedliche Milieus umfasst. Vielleicht geht für die Linke alles den Bach runter. Vielleicht gehen die Unterstützer von »Aufstehen«, der »Seebrücke« und »unteilbar« aber auch irgendwann mit einer gemeinsamen Idee des Zusammenlebens auf die Straße.

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