Mehr Sozialstaat und mehr Balkan

Alexis Tsipras hielt in Thessaloniki eine Rede zu Zustand und Zukunft Griechenlands

  • Elisabeth Heinze, Thessaloniki
  • Lesedauer: 4 Min.

»Thessaloniki als Hauptstadt des Balkans, mit diesem offenen Horizont nähern wir uns all unseren Nachbarn.« Und: »eine Stadt, ein Land, wie wir es verdienen.« so schloss der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras am Samstagabend die Eröffnungsrede der 83. Internationalen Messe von Thessaloniki (DETH). Begleitet wurde er von Applaus und stehenden Ovationen.

Die Handelsmesse dient der politischen Führung Griechenlands traditionell als Plattform, um Stellung zu beziehen zur Lage des Landes und um über Zukunftspläne zu sprechen. Zur »Tradition« gehören ebenfalls die Gegenproteste, die den Besuch aus Athen in der »stets zweiten Stadt« begleiten. Die Polizei war mit etwa 3500 Beamten präsent. Bis in die tiefe Nacht kreiste ein Hubschrauber über der Stadt, ein Schiff der Küstenwache lag seit Freitag im Thermaischen Golf, unweit der Messe.

Nachdem Tsipras im Vorfeld mehr Gewicht auf die Veranstaltung gelegt hatte, weil es die erste DETH-Messe nach Ende der Reformprogramme ist, waren mindestens vier Kundgebungen angemeldet worden. Die Protestierenden sehen durch die Entlassung aus den Memoranden noch keinen Anlass, ein gänzlich neues Kapitel aufzuschlagen. Die Gewerkschaftsverbände des Öffentlichen Dienst (ADEDY) und der Privatangestellten (GSEE) gingen wieder gegen Austeritätspolitik, Lohnkürzungen und Zwangsversteigerungen von Wohnhäusern auf die Straße.

Auf ihre Forderungen ging Tsipras in der parallel stattfindenden Regierungserklärung ansatzweise ein: Jeder werde »in seinem täglichen Leben spüren, dass die Memoranden vorbei sind«, versprach er. Die unbeliebte Immobiliensteuer solle schrittweise bis 2020 reduziert und teils halbiert werden. Ein Förderprogramm soll etwa 300.000 Familien helfen, ihre Miete bezahlen zu können. Darüber hinaus soll eine gleichberechtigte Gesundheitsversorgung installiert werden. Für Forschung und Wissenschaft wurden Maßnahmen wie die Absenkung der Sozialbeträge und Steuererleichterungen angekündigt, auch um die Abwanderung junger Fachkräfte in den Krisenjahren umzukehren.

Überdies versprach der Regierungschef, ab 2019 den Mindestlohn, der derzeit bei einer Vollzeitbeschäftigung bei 586,08 Euro liegt, in Absprache mit den einstigen Gläubigern des Landes anzuheben. Junge Arbeitnehmer im Alter von bis zu 25 Jahren könnten zukünftig von einer staatlichen Förderung der Sozialversicherungsbeiträge profitieren. Auch Rentenkürzungen seien, so Tsipras, nicht nötig, um 2019 das Ziel eines Primärüberschusses von 3,5 Prozent zu erreichen.

Mit Verweis auf Mitte Oktober, wenn der Haushalt der Europäischen Kommission vorgelegt werden soll, stellte Tsipras eine nennenswerte Absenkung der Sozialversicherungs- und Rentenbeiträge für Selbstständige von bis 35 Prozent beziehungsweise 13,3 Prozent bei Einnahmen von mehr als 7000 Euro in Aussicht. Ähnliche Beitragssenkungen versprach er auch anderen Berufsgruppen wie Landwirten und Ingenieuren. Ab dem 1. Januar soll auch die Unternehmenssteuer für einen Zeitraum von vier Jahren von 29 auf 25 Prozent reduziert werden. 2021 soll außerdem die Mehrwertsteuer von 24 auf 22 Prozent beziehungsweise von 13 auf 12 Prozent sinken. Die wirtschaftliche Lage gebe es her, Polizei, Armee, Feuerwehrleuten, Richtern und Akademikern rückwirkend rund eine Milliarde Euro für gekürzte Gehälter zu zahlen.

Alles in allem also: weniger Abgaben und mehr Sozialstaat, aber auch mehr Balkan. Die Beteiligung an den Protestdemonstrationen fiel indes geringer aus als erwartet. So liefen bei Demonstration der kommunistisch orientierten Gewerkschaft Pame weitaus mehr Organisierte durch die Innenstadt als bei den anderen Protestmärschen. Auch der Demonstrationszug der außerparlamentarischen Linken ANTARSYA (Antikapitalistische Linke Zusammenarbeit für den Umsturz) stand dem der großen Gewerkschaft zahlenmäßig kaum nach.

Die meisten beteiligten sich an der Demonstration, die sich gegen die Einigung im Namensstreit zwischen der nordgriechischen Provinz Mazedonien und der gleichnamigen ehemaligen Teilrepublik Jugoslawien richtete. Ein paar Tausend Menschen - weniger als beispielsweise im Januar bei vergleichbaren Aufrufen von unter anderem nationalistischen Gruppen, rechten Parteien, der Kirche und der konservativen Partei Nea Dimokratia - brachten mit Flaggen und reichlich Nationalsymbolik ihre Ablehnung für den im Juni ausgehandelten Namen »Republik Nord-Mazedonien« zum Ausdruck. Mazedonien sei nur griechisch, hieß es bei den Protestierenden.

Drinnen gab es Applaus für Tsipras Balkanstrategie in Anlehnung an das Abkommen von Prespa, draußen Schlachten mit der Polizei: Eine Gruppe von gewaltbereiten Nationalisten hatte sich von der Demon-stration abgespalten, um zum nahe gelegenen Veranstaltungsort vorzudringen. Daraufhin setzte die Polizei Blendgranaten, Schlagstöcke und vielfach Tränengas ein, das sich durch die Meeresluft in der ganzen Umgebung verteilte und am Samstag über der Stadt lag.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.