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Deutschlands größter islamischer Safe Space
Ahmadiyya-Muslime gelten als Vorbilder für gelungene Integration. Nun trafen sie sich in Karlsruhe zur Konferenz
Es müssen Tausende Mangos sein, die sich in den hoch gestapelten gelben Kisten verbergen. »Haben wir extra aus Pakistan importiert«, sagt ein Mann, der von Rauch umgeben ist und einem Berg von Fleischspießen drei weitere hinzufügt. Im Zelt nebenan warten Hunderte Bierzeltgarnituren und eine scheinbar unendliche Masse aus Reis, Linsensuppe und Pappbechern auf ihren Einsatz. Zwei Hallen weiter steht unterdessen ein älterer Herr mit weißem Turban zum weißen Bart auf einer riesigen Bühne und spricht vor einigen Tausend Gläubigen die letzten Worte des Freitagsgebets.
Rund 40.000 Anhänger und Gäste der Ahmadiyya Muslim Jamaat haben sich am Wochenende zu ihrer jährlichen Versammlung »Jalsa Salana« getroffen. Das klingt nach viel, blickt man auf die überfüllten Hallen der Karlsruher Messe. Das ist gigantisch, wenn man weiß, dass die islamische Gruppierung in Deutschland gerade einmal 35.000 Mitglieder zählt.
»Es ist die familiäre Stimmung, die Emotionalität, wenn man den Kalifen sieht und das unbeschreibliche Gefühl der Erleuchtung«, erklärt Aniq Ahmed, was für ihn das Besondere an der Veranstaltung ist. Schon als Kind habe er der »Jalsa« entgegengefiebert. »Wir durften den ganzen Tag allein herumlaufen und Wasser an die älteren Herren verteilen. Da waren wir ziemlich stolz darauf«, sagt der 26-jährige Imam aus dem hessischen Reinheim.
Der Kalif, von dem er spricht, wohnt in London und heißt Mirza Masroor Ahmad. Seine Auftritte sind die absoluten Höhepunkte der Veranstaltung. Ahmadis verehren ihn als spirituelles Oberhaupt ihrer Gemeinde und fünften Nachfolger von Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad, der Ende des 19. Jahrhunderts in Indien seine reformislamischen Lehren verbreitete. Dass Ahmadis ihn als Messias und Nachfolger des Propheten Mohammads verehren, ist für viele orthodoxe Muslime Grund, sie zu verfolgen. Ihre indische Heimat mussten die meisten Ahmadis verlassen. Die Islamische Weltliga erklärte sie 1974 zu Ungläubigen. Und auch in Deutschland schmähen sie viele als abtrünnige islamische Sekte.
Doch die Ahmadis zu einer bestenfalls skurrilen islamischen Splittergruppe zu erklären, wird ihrer gesellschaftspolitischen Rolle und ihrer Bedeutung für die Wahrnehmung des Islam in Deutschland nicht gerecht. So offensiv wie die Anhänger keiner anderen islamischen Strömung streiten Ahmadis überall dort für einen gewaltfreien Islam, wo andere ihn infrage stellen: am Berliner Breitscheidplatz, in Chemnitz, in Fußgängerzonen und auf Facebook. Mit Erfolg: Als einzige islamische Religionsgemeinschaft genießen sie in Hessen und Hamburg den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, haben also die gleichen Rechte wie christliche Kirchen. Wenn Politiker Beispiele für gut integrierte Muslime oder Beweise dafür suchen, dass Islam und Grundgesetz bestens zueinander passen, landen sie meist bei den Anhängern Ahmads.
Auch in Karlsruhe versäumt es kaum ein Redner, auf Grundgesetztreue und Friedfertigkeit des Islams aufmerksam zu machen. Statt des islamischen Glaubensbekenntnisses prangt »Liebe für alle - Hass für keinen« in riesigen Buchstaben über den Köpfen der Gläubigen. »Was unsere Gemeinde auszeichnet: Wir stehen loyal zu unserem Land. Du wirst hier niemanden mit ›Merkel muss weg‹-Slogan sehen«, sagt der 36-jährige Hmayon Salim. Tatsächlich ist das Bekenntnis zur jeweiligen Regierung und politischen Ordnung fester Bestandteil der Theologie der Ahmadis. »Außerdem stehen wir für Dialogbereitschaft«, sagt Salim. Dass sich dahinter keine leere Floskel verbirgt, wird spätestens am dritten Tag der Veranstaltung deutlich, als nach Politikern von SPD und Linkspartei auch Volker Münz auf der riesigen Bühne Platz nimmt. Der religionspolitische Sprecher der AfD im Bundestag bekräftigt immer wieder, dass für ihn der Islam keinen Platz in Deutschland habe. Seine Fraktionschefin Alice Weidel forderte sogar einmal, die Ahmadiyya zu verbieten.
Dabei verdeutlicht wahrscheinlich keine andere islamische Gruppierung in Deutschland so gut, wie absurd die Frage nach der Zusammengehörigkeit von Islam und Deutschland ist. Die Geschichte der Ahmadiyya reicht nicht nur weiter zurück als die jeder anderen islamischen Gruppierung in Deutschland. Mit fast 100 Jahren ist sie älter als die Bundesrepublik selbst. Die älteste noch erhaltene Moschee in Deutschland, die 1924 gebaute Wilmersdorf Moschee in Berlin, stammt ebenso von Ahmadis wie die erste deutsche Koranübersetzung aus muslimischer Hand und die erste islamische Zeitung in Deutschland.
Dass auch Ahmadis heute mit gesellschaftlichen Widerständen zu kämpfen haben, liegt aber nicht nur an Islamfeinden. Auch sie selbst sind in mancher Hinsicht aus der Zeit gefallen. Themen wie der Umgang mit Homosexualität und die Gleichstellung von Mann und Frau sind ihre Achillesferse beim Bemühen um ein zeitgemäßes Image.
»Wer homosexuell ist, wird sicherlich bei uns nicht Vorsitzender werden«, sagt der Deutschlandchef Abdullah Uwe Wagishauser. »Aber ansonsten ist das ihr Privatleben, das geht mich nichts an. Das ist bei uns nicht anders als bei den Kirchen auch.« Dass Frauen und Männer auch in Karlsruhe in getrennten Hallen beten, findet die Vorsitzende der Frauenorganisation der Ahmadiyya, Khola Marjam Hübsch, nicht problematisch. »Auf der Frauen-Seite ist das ein Safe Space. Man betet gemeinsam, die Mäntel und Kopftücher werden ausgezogen, man ist unter sich, völlig entspannt«, erklärt Hübsch und erzählt die Anekdote von einem Musikfestival in Dänemark: »Das war total aus dem Ruder gelaufen und infolgedessen hatten in diesem Jahr Cis-Männer keinen Zutritt. Frauen haben danach erzählt, wie es wahr: entspannt, offen, es gab nicht ständig diese Flirtsituationen. So ist es auf der Jalsa auch.«
Dass der islamische Safe Space »Jalsa« nur um den Preis massiver Sicherheitskontrollen zu bewahren ist, weiß auch Hübsch. Die Autorin aus Frankfurt ist das prominenteste Gesicht der Ahmadiyya in Deutschland und Talkshow-Macher besetzen regelmäßig mit ihr die Rolle der selbstbestimmten Kopftuchträgerin. Sie kennt Anfeindungen und Drohungen von islamfeindlicher und von innerislamischer Seite. Dass sich trotz Hass und Kritik so viele Ahmadis öffentlich engagieren, liege auch am starken Gemeindeleben, sagt Hübsch: »Das ist eine Form von Support, die andere Communitys nicht haben.«
Welche Kraft in dieser zahlenmäßig kleinen Community steckt, wird auch in den Karlsruher Messehallen deutlich. Unweit von Mangokisten und Fleischspießbergen haben Ahmadis ein professionelles Lazarett errichtet. Der diensthabende Notarzt, der ein Team aus Ahmadi-Sanitätern und Ärzten anleitet, ist im echten Leben Neurochirurg. Im Innenhof bereitet sich der Moderator von Muslim Television Ahmadiyya in einem eigens gebauten Fernsehstudio auf die nächste Live-Schalte via Satellit und Online-Streaming vor. Sein Job im echten Leben: Bauingenieur. Ein paar Meter entfernt steht das gleiche Studio noch einmal: für die arabischsprachige Kommentierung der Kalifen-Predigt. Diese wird unterdessen von einem Team aus freiwilligen Ahmadi-Simultanübersetzern in über zehn Sprachen übertragen. Vor den Toren der Halle bringt der Ahmadi-Fahrservice neue Besucher von Flughäfen und Bahnhöfen zur Messe und später zu den gleich reihenweise angemieteten Hotels der Stadt. Wer dort keinen Platz mehr findet, landet im mit Stellwänden und Matratzen hergerichteten Schlafsaal.
Darauf, dass alles auf Ehrenamtlern basiere, sind die Ahmadis neben der Anwesenheit des Kalifen besonders stolz. »Es ist wie eine große Familienfeier. Für drei Tage bauen wir uns hier unsere eigene kleine Stadt auf, in der jeder ganz andere Rollen hat, und fühlen uns sehr wohl dabei«, sagt Rameza Bhutti. »Man trifft auf Menschen aus Deutschland und der ganzen Welt«, nur etwas mehr Nicht-Muslime könnten es schon sein, findet die Politik Studentin, die ab Montag wieder zu ihrem Praktikum im baden-württembergischen Staatsministerium zurückkehrt. »Jedes Jahr treffen sich 40.000 Menschen hier für eine Friedenskonferenz, aber der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann war noch nie da«, sagt Bhutti und verrät, was sie sich für die Zukunft wünscht: Akzeptanz.
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