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Industriegebiet Ostsee
Im Kino: »Seestück«, ein Dokumentarfilm über das Leben am Meer von Volker Koepp
Wer als Kind an der Ostsee war, kennt vielleicht noch dieses aufregende Gefühl der Annäherung an das Meer. Schon von weitem war das Rauschen der Brandung zu hören, und dann gab es den erhabenen Moment, wenn man die Dünen empor gelaufen war und auf den Strand und die scheinbar endlose Weite des Wassers blickte. Jetzt blieb nur noch, jauchzend durch den weichen Sand zur Wasserkante zu rennen und mit den Füßen zuerst Teil des Meeres zu werden. Das Glücksgefühl, das mit diesem Annähern verbunden war, ist nur zum Teil damit zu erklären, dass nun der Urlaub begonnen hatte. Eher äußerte sich darin ein atavistisches Grundrauschen, was allen Menschen zu eigen ist, denn tief in uns steckt ja immer noch die Erinnerung an die Zeit, als wir alle Lurche und Schachtelhalme waren, so vor 300 Millionen Jahren.
Volker Koepp jedenfalls erzählt diese Kindheitserinnerung ganz am Anfang seines neuen Films und bringt damit auch eine vergessene Saite des Autors dieser Zeilen zum Klingen. Genau das ist es auch, was Koepps Filme auszeichnet; er zeigt uns die Orte und Landschaften, die wir eigentlich zu kennen glauben, auf eine Weise, wie man sie noch nie wahrgenommen hat oder durch die eigenen Verhärtungen nicht mehr wahrzunehmen imstande ist. Durch die stille Poesie seiner ruhigen Bildsprache und den gemächlichen Erzählrhythmus lässt er den durch sein Leben hetzenden Betrachter innehalten - wann hat man sich zuletzt die Zeit genommen, den großen weiten Himmel über der Ostsee auf sich wirken zu lassen, wenn doch Einkaufen, Parkplatzsuche und Kinderbespaßung im überfüllten Urlaubsquartier alle Aufmerksamkeit erfordern? Wo hat Koepp nur die idyllischen Plätze gefunden, an denen der Meereswind durch die hohen Kiefern rauscht und ansonsten Stille herrscht, wo doch inzwischen jedes schöne Fleckchen an der Küste mit Ferienwohnungen zugestellt ist?
Mit »Seestück« - einem Film über die Ostsee, über das Leben am Meer und mit dem Meer - schließt Volker Koepp einen filmischen Zyklus ab, den er mit »Berlin-Stettin« (2010) begann. »In Sarmatien« (2013) erweiterte den Blick auf die Region östlich der Weichsel und zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee. 2016 kehrte Koepp in die Uckermark nördlich Berlins zurück. Drei Filme hat er über diese Sehnsuchtslandschaft der Berliner im Abstand von jeweils ungefähr zwanzig Jahren gedreht. In »Landstück« zeichnete er ein eher pessimistisches Bild der Veränderungen durch die intensive, Naturkreisläufe zerstörende Landwirtschaft und die sich dramatisch verändernden Eigentumsverhältnisse von Land und Boden durch das Landgrabbing solventer Großinvestoren. »Seestück« schließt den Reigen nun ab.
Wer die Filme von Volker Koepp kennt, weiß, was den Betrachter erwartet. Lange, wohlkomponierte Einstellungen von Viel-zu-schön-um-wahr-zu-sein-Landschaften (Kamera: Uwe Mann), die sich abwechseln mit Begegnungen mit in der Regel sehr bodenständigen Menschen, die es erkennbar nicht gewöhnt sind, vor der Kamera zu stehen, aber auf die scheinbar wie nebenbei gestellten Fragen des Regisseurs im Hintergrund hin dann doch anfangen zu erzählen. Dem Zuschauer öffnet sich ein Kosmos an Geschichten, Mythen und Schicksalen und fasziniert sieht er zu, wie die Sedimente der Historie im Dialog von Menschen und Orten Schicht für Schicht abgetragen werden.
Dabei sind Koepps Filme immer auch ein Vermessen der eigenen Erinnerungen, seine Beschreibungen von Landschaftsräumen enthalten stets autobiografische Bezüge. Deshalb ist es kein Zufall, dass der im pommerschen Stettin Geborene wieder und wieder die Regionen bereist, die mit ihm selbst und der eigenen Geschichte zu tun haben. Für eine Filmlänge nimmt uns Volker Koepp dieses Mal mit auf eine Reise durch den Ostseeraum, von der deutschen Küste über Polen, Kaliningrad, durch das Baltikum bis nach Dänemark.
Ganz so harmonisch und naturselig wie oben angedeutet geht es freilich nicht lange weiter, denn, wie könnte es anders sein, auch das Ökosystem Ostsee ist in seinem Bestand bedroht. Da ist der alte Fischer, dessen Erträge sukzessive zurückgehen und der seinen Beruf deshalb inzwischen eher als Hobby betreibt, denn leben lässt sich davon kaum noch. Fassungslos lauscht man den beiden Stadtverordneten aus dem polnischen Swinemünde, die am dortigen Strand mit ungetrübtem Wachstumsglauben von den hier demnächst hinzukommenden 6000 Urlauberbetten berichten, während unweit 400 Hektar Wald einem neuen gigantischen Terminal für die UD-amerikanischen Großtanker und ihrem Fracking-Gas weichen müssen. Längst ist die Ostsee zu einem einzigen großen Industriegebiet geworden.
Ein besonderer Gewinn für den Film ist Michael Succow, der eloquent, kenntnisreich, mit Witz und sprühender Energie von den problematischen Veränderungen im Lebensraum Ostsee erzählt. Wer ihn nicht kennt: Succow ist Biologe und Agrarwissenschaftler. Der Träger des Alternativen Nobelpreises gilt als »Vater« der ostdeutschen Nationalparks und Biosphärenreservate, die er als Mitglied der letzten DDR-Regierung in einem Husarenstück geschaffen und gegen viele Widerstände rechtssicher in den Einigungsvertrag mit aufgenommen hatte. Später galten diese Flächen, die durch strenge Naturschutzbestimmungen vor der Verwertung im nun einsetzenden Vulgärkapitalismus geschützt waren, als Tafelsilber der Einheit. Nebenbei kann er auch asynchron mit den Ohren wackeln und Vogelstimmen perfekt imitieren, wie er in »Landstück«, in dem er auch auftrat, bewies.
Diesem schiere Lebensfreude ausstrahlenden und äußerst beredtem Wissenschaftler zuzuhören - allein dafür lohnt der Film. Im Gespräch mit Volker Koepp schlägt er einen Bogen von der Romantik und Caspar David Friedrichs »Männern am Strand« - Succow will die Stelle an der Ostseeküste gefunden haben, an welcher der Maler gesessen und gemalt haben muss - bis zur ernüchternden Gegenwart. Der Fortschrittswahn und der damit einhergehende Glaube, die Natur immer mehr optimieren zu können, führe dazu, dass der Mensch Gefahr laufe, durch Selbstabschaffung zu einer bloßen Episode der Erdgeschichte zu werden, zu einem, wie er es nennt, »interglazialen Irrtum«. Und wörtlich: »Wir stehen vor einem [ökologischen, d.A.] Scherbenhaufen und das Verdrängen dieser unbequemen Wahrheit prägt unsere Gesellschaft«. Darüber können wir ja, wenn wir das nächste Mal vor Rügen im Stau stehen, mal nachdenken.
»Seestück«. Deutschland 2018. Regie: Volker Koepp, Kamera: Uwe Mann, 135 Minuten.
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