Stille Verzauberung der Filmwelt
Im Kino: «Glücklich wie Lazzaro» von Alice Rohrwacher
Spätestens seitdem die Phantastik auch in die Welt der Werbung Eingang gefunden hat, ist es schwer geworden, den Einbruch des Wunderbaren noch als spektakulär oder gar schockhaft zu inszenieren. Autos verwandeln sich in Tiger, Menschen fliegen durch die Luft - so lange das nach den Gesetzen der Welt, die sich auf dem Bildschirm oder der Leinwand entfaltet, unproblematisch oder ohne Weiteres integrierbar ist, braucht es auch den Zuschauer nicht weiter irritieren. Interessanter wird es, wenn die Gesetze der filmischen Welt von dem phantastischen Ereignis verletzt werden und diese Verletzung Erfahrungspotenziale erschließt.
Die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher hat in ihrem Film «Glücklich wie Lazzaro» ein wundersames Mischverhältnis von Unwirklichem und Realismus konstruiert und einen unaufgeregten, in seiner Stille durchschlagenden Einzug des Phantastischen in die Welt ihres Films inszeniert. Ein junger Mann fällt durch die Jahrzehnte. Genaueres kann man nicht verraten ohne massiv zu spoilern.
Die wie nebenbei geschehende Zeitreise ist nur der offensichtlichste Punkt, an dem in diesem Film die Zeiten vermischt werden. Rohrwachers Geschichte beginnt auf einer mittelitalienischen Tabakplantage, deren Bewohner ohne Lohn zu arbeiten scheinen. Wo genau dieser aus der Zeit gefallene Ort historisch situiert sein soll, wird über lange Zeit nicht klar. Obwohl die Bilder an die Tradition des italienischen Neorealismus anschließen, wirkt das ganze Geschehen seltsam entrückt.
Der Realismus ist hier von einer konsequenten Kargheit. Von der ersten Stunde des Films bleiben vor allem die zerfurchten Gesichter der Arbeiterinnen und Arbeiter in Erinnerung. Die Schauspieler, die Tabakplantagenbauern spielen, agieren nicht wie Schauspieler, sondern wie Tabakplantagenbauern. Während der ersten Filmhälfte wirkt das Geschehen über weite Strecken dokumentarisch, wenngleich auch das Licht, das die unwirtlichen Orte dieses Films wunderschön ausleuchtet, von Kamerafrau Hélène Louvart virtuos eingefangen worden ist.
Mit dem zentralen Wendepunkt des Films wird erst deutlich, worum es in dieser Geschichte geht: um die Kontinuität über die Zeiten hinweg. Immer werden die Menschen einander ausnutzen, erklärt die Plantagenbesitzerin ihrem renitenten Sohn, und spricht eigentlich von Ausbeutung. Die Menschen zu befreien, würde bedeuten, ihnen ihre Knechtschaft bewusst zu machen. Sie beutet die Arbeiter aus, und die Arbeiter beuten Lazzaro aus, den immer freundlichen, muskulösen jungen Mann, der noch die schwersten Arbeiten folgsam erledigt. Vielleicht, wendet ihr Sohn ein, ist ja Lazzaro ja ein Mensch, der niemanden ausnutzt. Und das tut er tatsächlich nicht. Adriano Tardiolo, ein Laienschauspieler, spielt den Titelhelden des Films als duldsame, fast apathische Figur, mit großen Augen und einem kindlichen, irgendwie leeren, aber freundlichen Gesicht. Was auf den ersten Blick wie die ironische Überhöhung einer Einfaltspinselfigur erscheint, entpuppt sich bald als Voraussetzung, um ein ganz gegenwärtiges soziales Elend durch die alles freundlich registrierenden Augen eines unschuldigen Menschen zu betrachten; ein Elend, das sich auf diesem Weg erst unverstellt zeigt.
Die Plantagenbesitzerin wird recht behalten. Die unter den gegebenen Umständen in diesem Film mögliche Befreiung ist keine, sondern ersetzt nur das alte Elend durch ein modernisiertes. Es sind kleine Momente, die Rohrwacher in diesem bedeutungsoffenen Film als Kristallisationspunkte ihres Blicks auf die Welt anbietet. Wenn zum Beispiel die Gruppe der befreiten Plantagenarbeiter ihrer früheren Ausbeuterin ohne Not ein eigentlich unbezahlbares Geschenk machen will. Diese unaufgeregte und eigensinnige Verbindung von Sozialrealismus, in der die stille Verzauberung der Filmwelt nicht als Ausweichen vor der Realität, sondern als Schlüssel zur Wirklichkeitswahrnehmung fungiert, ist schon weitgehend singulär.
«Glücklich wie Lazzaro. Italien, Deutschland, Frankreich, Schweiz 2018. Regie: Alice Rohrwacher. Drehbuch: Alice Rohrwacher. Darsteller: Adriano Tardiolo, Alba Rohrwacher, Nicoletta Braschi, 127 Minuten.
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