Kriminelle Geschäfte

Die »Bestandsaufnahme Gurlitt« im Berliner Martin-Gropius-Bau schaut hinter die Kulissen des Kunsthandels in der NS-Zeit

Unglaublich. Die Augen können sich nicht satt sehen, an diesen Schätzen: Gemälden, Zeichnungen, Grafiken und Lithographien weltberühmter Künstler. Man fühlt sich in den Louvre oder die Eremitage versetzt - en miniature freilich. Impressionistische Landschaften von Claude Monet, die Tänzerinnen von Edgar Degas, von dem auch eine klitzekleine Skulptur zu bewundern ist, Plakate von Henri Toulouse-Lautrec, eine Plastik von Auguste Rodin, Pissarro, Renoir, Picasso und und und und. Vor allem Werke der deutschen Avantgarde, von Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff aus der Künstlergemeinschaft »Brücke«, von Franz Marc, einer der »Blauen Reiter« München. Von der »Berliner Secession« Edvard Munch, Max Liebermann, Lovis Corinth, Emil Nolde und Käthe Kollwitz, der ersten Professorin an der Preußischen Akademie der Künste, die 1933 wegen ihrer pazifistischen Überzeugungen entlassen wurde. Und von der man in der grandiosen Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zur eigenen Überraschung eine unter Linken allseits bekannte Lithographie entdeckt, im Bildtext als »Totenklage« ausgewiesen. Merkwürdigerweise kein Hinweis darauf, dass hier die Aufbahrung des am 15. Januar 1919 ermordeten Karl Liebknecht festgehalten ist.

Es ist unglaublich, was für Schätze diese Schufte horteten, Vater wie Sohn. Man weiß nicht, wer der größere Kriminelle war: Hildebrand oder Cornelius Gurlitt. Presste der eine billig verzweifelten, bedrängten Menschen Hab und Gut ab, bereicherte sich an ins Exil getriebenen, enteigneten und deportierten Juden, hockte der andere auf einem Erbe, das der Menschheit gehört, entzog es der Öffentlichkeit und bestritt sein Faulenzerleben damit, dass er gelegentlich einige Kostbarkeiten verhökerte.

Im Eingangsbereich der von der Kunsthalle Bonn und dem Kunstmuseum Bern (nach testamentarischer Verfügung von Cornelius Gurlitt Alleinerbin der Sammlung) gestalteten Ausstellung in Berlin steht man vor einer Wand - übersät mit Zeitungsartikel über den spektakulären »Fund von Schwabingen«. Der kein milliardenschwerer sei, wie die Medien 2012 berichteten und Rein Wolfs korrigiert. Der Intendant der Bundeskunsthalle vermochte auf »nd«-Nachfrage den Wert der Sammlung Gurlitt indes auch nicht zu beziffern. Er ist eben unschätzbar - im doppelten Sinne des Wortes: ob seiner Einzigartigkeit wie auch darob, dass er keinen Marktwert hat, zumindest solange nicht die Provenienz aller 1500 Werke geklärt ist, von denen jetzt 200 gezeigt werden.

Vier Zeichnungen konnten jüngst als Raubkunst identifiziert werden. Sie sind im ersten Raum ausgestellt, gehörten der jüdischen Familie Deutsch de la Meurthe und wurden in Paris von den deutsch-faschistischen Okkupanten konfisziert. Gurlitt hatte weitere 14 Bilder aus dem Besitz des Industriellen und Förderers der Luftfahrt Henri Henry Deutsch de la Meurthe, von dessen Töchter nur die jüngste, Georgette, den Völkermord an den Juden überlebte; die älteste namens Betty, die in der Exposition als Pilotin abgelichtet ist, wurde in Auschwitz ermordet.

Schon im nächsten Raum die erste große Überraschung, der viele weitere folgen sollen: kriegsanklagende und sozialkritische Zeichnungen des Kommunisten Georg Grosz und des »Arbeiterkindes« Otto Dix. Hildebrand Gurlitt schätzte auch linke Künstler. Wie konnte er sich da dem NS-Regime andienen? Eine Frage, die auch die Kuratoren beschäftigt, aber ratlos lässt. Die Biografie von Gurlitt senior verrät, dass ihm seine Vorliebe für avantgardistische Kunst zwei Mal die Anstellung kostete: 1930 als Museumsdirektor in Zwickau, 1933 als Direktor des Hamburger Kunstvereins. Jedoch und obwohl er ob seiner jüdischen Großmutter nach den Nürnberger Rassegesetzen als »Mischling« galt, mischte er bald wieder kräftig mit im Kunstgeschäft. Von den 1937/38 in über 100 deutschen Museen beschlagnahmten 20 000 Werken, die den Nazis als »entartet« galten, übernahm Gurlitt 3879. Spätesten ab 1938 profitierte er auch von der Not jüdischer Sammler, von den Berufsverboten, »Arisierungen« und Zwangsauflagen wie der »Judenvermögensabgabe« oder »Reichsfluchtsteuer«. Aus der Sammlung des Musikverlegers und Mäzen Henri Hinrichsen, dessen Verlag 1938 arisiert und der 1942 in Auschwitz ermordet wurde, erstand Gurlitt zwei Gemälde und zwei Zeichnungen, darunter »Das Klavierspiel« von Carl Spitzweg. Auch 23 Blätter von Adolph Menzel erhielt er nur, weil deren Besitzer ihre Emigration finanzieren mussten.

Die Provenienzforscher nutzen ein Ampelsystem. Rot markiert sind die zu restituierenden Gemälde, gelb jene, deren Herkunft noch unbekannt ist, grün der »Raubkunst« unverdächtige Werke. Museologen hoffen natürlich stets, Gelb möge in Grün umschlagen. Mit Gelb ist noch das »Porträt einer jungen Frau« von Thomas Couture gekennzeichnet, das wahrscheinlich aus der Sammlung des französischen Politikers Georges Mandel stammt, der 1944 von Bütteln des mit Hitler kollaborierenden Vichy-Regimes erschossen worden ist.

Ab Sommer 1943 war Gurlitt in Frankreich, Belgien und den Niederlanden unterwegs - als offizieller Chefeinkäufer für das geplante »Führermuseum« in Linz, für das er, so der Forschungsstand, mindesten 300 Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Tapisserien im Wert von 9,8 Millionen Reichsmark anschaffte. Der Kunsthändler konnte problemlos durch die besetzten Gebiete reisen und war mit Devisen gut ausgestattet. In der Schau sind eine eigenhändige Skizze des Möchtegernarchitekten Hitlers für »sein« Museum zu sehen sowie zwei der insgesamt 31 Fotoalben, die dem Diktator einen Überblick über die gerafften Bestände vermitteln sollten. Für Gurlitt war im Krieg vor allem Paris lukrativ. 1942 erwarb er vom jüdischen Kunsthändler Jean Lenthal 42 Werke, wie seine Geschäftsbücher ausweisen. Eine Vitrine birgt zudem einen »Fünf-Jahres-Kalender« von Helene Gurlitt, der Gattin. Am 26. Februar 1943 vermerkte sie den Eingang von »4 Kisten aus Paris«.

Die meisten Werke aus Gurlitts kriminellen Geschäften wurden 1945 von Kunstoffizieren der US-Armee in Aschbach konfisziert und in ein Central Collecting Point nach Wiesbaden gebracht. Im letzten Ausstellungsraum wird über das Entnazifizierungsverfahren in Bamberg berichtet, das Gurlitt entlastete, worauf er 1948 Leiter des ehrwürdigen Düsseldorfer Kunstvereins wurde. Als solcher richtete er jährlich mehrfach Ausstellungen aus, tourte gar in die USA. Der Koffer im Eingangsbereich der Exposition, vor der Medienwand, gehörte jedoch dem Sohn Cornelius. Darin fanden sich über 100 Werke.

Zu den bewegendsten Dokumenten der Schau, die - wie die Kuratorin Agnieszka Lulinska betont - keine Gemäldegalerie ist, sondern Schicksale der Sammler und die Komplizenschaft der Kunsthändler dokumentiert, gehört ein Brief der Witwe von Max Liebermann, Präsident der Akademie der Künste, dessen »Reiter am Strand« an die Erben des ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden konnte und hier als Foto zu sehen ist. Martha Liebermann beklagt am 4. März 1943, sechs Tage vor ihrem Suizid, von ihrer Bank auch nicht die kleinste Summe mehr ausgezahlt bekäme: »Dazu macht man mir von allen Seiten Angst wegen Abtransport!«

»Bestandsaufnahme Gurlitt. Ein Kunsthändler im Nationalsozialismus«, bis 7.1., Martin-Gropius-Bau, Mi - Mo 10 bis 19 Uhr; 10 €/6,50 €; Katalog (29,90 €).

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