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Die zweijährige Elisabeth lief zu Fuß zum Müggelturm

Bei der 100. nd-Leserwanderung wurden am Sonntag am Berliner S-Bahnhof Hirschgarten 729 Startkarten ausgegeben

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.

Hilda Bramer ist überrascht. Sie hat sich gerade die Startkarte und den Wanderplan geben lassen, da bekommt sie noch ein kleines Fernglas geschenkt. Zur 100. nd-Leserwanderung am Sonntag bekam jeder 100. Teilnehmer ein solches Erinnerungsstück überreicht. Insgesamt sieben Ferngläser werden am S-Bahnhof Berlin-Hirschgarten verschenkt, 729 Startkarten werden ausgegeben. Eine sieben Kilometer lange Stecke führt zum Müggelturm. Wem das zu kurz ist, der kann noch einen Schlenker machen und 14 Kilometer laufen.

Die Sonne strahlt, und Müggelturm-Geschäftsführer Matthias Große strahlt ebenfalls. Die Plätze vor der Bühne sind restlos besetzt, die Terrassen gut gefüllt. Vor ihm haben fünf Investoren geredet, aber nicht investiert, erinnert Matthias Große. Der Abriss des Müggelturms war im Gespräch. Doch der Immobilienunternehmer hat ihn gerettet und lässt immer weiter ausbauen, zum Beispiel eine extra Terrasse für Hundehalter, die mit ihren Tieren bis jetzt nicht rein dürfen. Fünf Euro kostet die Flasche Bier. Das ist happig, weiß Große selbst. Doch die Investitionen müssen irgendwie refinanziert werden, rechtfertigt er die von manchen Besuchern als zu hoch empfundenen Preise. Viele andere Gäste sind jedoch einfach nur glücklich, dass Große das Traditionslokal schnörkellos wiederbelebt. »Wir brauchen kein Hotel, keine Seilbahn, keinen Hubschrauberlandeplatz. Wir wollen eine bodenständige Ausflugsgaststätte, wo die Leute ihr Bier trinken können«, erläutert der Immobilienunternehmer. Die Zuhörer applaudieren.

Mit dem Bezirk Treptow-Köpenick hat Große so manchen Strauß auszufechten. Aber kämpfen hat er gelernt - damals als Student an der Militärhochschule in Minsk. Da errang er im Kraftsport den Titel »Meister des Sports der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken«, dem größten Land der Welt, wie Große stolz bemerkt. »Das nimmt mir keiner mehr.« Die Zuhörer applaudieren wieder. Den Abschluss konnte Große in Minsk nicht mehr machen. Die DDR und ihre Nationale Volksarmee brachen zusammen. Die Offiziersschüler wurden Ende 1989 aus der Sowjetunion zurückbeordert. Große fing als Toilettenmann im Grand Hotel an, arbeitete sich langsam hoch - nun quasi bis auf die Müggelberge hinauf. Er würde sich freuen, wenn die nd-Tour nächstes Jahr erneut herführt.

Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (LINKE) äußert einen Gegenvorschlag. Wie wäre es mal wieder mit einer Leserwanderung in ihrem Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf. Der letzte Termin dort, eine Wanderung im Wuhletal, ist schon etliche Jahre her. Unterwegs könnten sich die Wanderer überzeugen, dass die Vorurteile über die Plattenbaugebiete nicht zutreffen und dass Marzahn-Hellersdorf eigentlich der schönste Bezirk Berlins sei, wirbt Petra Pau unter dem Jubel jener nd-Leser, die aus diesem Bezirk zur nd-Wanderung gekommen sind.

Gerhard Wagner, der seit Jahren die Strecken der nd-Wanderungen plant, fallen sofort ein paar schöne Wege in der genannten Gegend ein. »Gute Idee«, findet auch nd-Organisationsleiter Rainer Genge. Er will drüber nachdenken. Fest steht mit dem 14. April 2019 bislang nur der Termin der Frühjahrswanderung.

Nachdem Petra Pau auf der Bühne über falsche Weichenstellungen in der Haushaltspolitik der Bundesregierung, über den aus ihrer Sicht unzumutbaren Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen und die unzureichende Aufklärung des NSU-Skandals gesprochen hat, betätigt sie sich noch als Glücksfee bei der Quizverlosung. Gewinner je eines Fahrrads sind Karl Zurbrügg und Ronald Lackermeier, beide aus Berlin.

Ein Geschenk aussuchen darf sich die zweijährige Elisabeth. Sie ist am Sonntag vielleicht nicht die Jüngste am Ziel, wohl aber das jüngste Kind, das die ganze Strecke vom S-Bahnhof Hirschgarten selbst gelaufen ist. Dafür gibt es Applaus genauso wie für die mit 94 Jahren älteste Wanderfreundin. Das Wetter ist prima, die Stimmung ebenso.

Aber die Stimme von Berlins Kultursenator Klaus Lederer (LINKE) ist am Sonntagmorgen plötzlich weg, und er muss seinen Auftritt kurzfristig absagen. Leider nicht kommen konnte diesmal die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch (LINKE). Sie lässt durch Petra Pau Grüße ausrichten. Grüße schickte auch Extremwanderer Robby Clemens, der schon mit den nd-Lesern und auch einmal um die ganze Welt gewandert ist. Gerade läuft er vom Nordpol zum Südpol zu Fuß, nähert sich dabei gegenwärtig der Stadt Santiago de Chile.

An ungefähr 30 nd-Wanderungen habe er in den zurückliegenden Jahren teilgenommen, erzählt Rolf Uhlig. »Für mich war das hier die schönste«, schwärmt er.

Auch Dieter Burgdorff gefiel die abwechslungsreiche Strecke. Zwar ist er bereits 80 Jahre alt. Doch die Distanz war für ihn ein Klacks. Burgdorff ist Wandersportler beim SV Empor Berlin und läuft da ganz andere Entfernungen, erst am Freitag beispielsweise 20 Kilometer von Erkner nach Berlin-Köpenick. Dort überprüfte er ehrenamtlich, ob noch alle Markierungen eines Wanderwegs in Ordnung sind. Seit 1962 ist Burgdorff Abonnent. Gelesen hat er das »nd« aber schon früher.

An den Theken, an denen Getränke ausgeschenkt sowie Eis, Kuchen und Bratwürste verkauft werden, bilden sich zeitweise lange Schlangen. Müggelturm-Chef Große bedauert. Personal sei gegenwärtig schwer zu finden. Drei Köche arbeiten bis zur Erschöpfung. Wer einen Koch kennt, der einen Job sucht, soll ihn vorbeischicken. Auch Reinigungskräfte und Servicepersonal werden gern noch eingestellt. Einstweilen müssen sich Gäste darauf einstellen, dass sie vielleicht mal etwas warten müssen. Das einst so beliebte Areal zieht wieder Massen an. 80 000 Besucher sind seit der Neueröffnung am 1. Mai hergeströmt. Große würde sich eine Buslinie bis hoch wünschen. Lohnen würde sich das sicherlich.

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