Es lohnt sich, um die Sammlungsbewegung zu kämpfen

Warum die Sammlungsbewegung kritische Solidarität und eingreifendes Mitgestalten braucht, erklären Michael Brie und Dieter Klein in elf Thesen

  • Michael Brie und Dieter Klein
  • Lesedauer: 8 Min.

Aus der politisch-gesellschaftlichen Linken heraus ist ein neuer Versuch begonnen worden, das neoliberale Weiter-So von links herauszufordern – die Sammlungsbewegung #Aufstehen. Es gibt viele und gut fundierte Gründe, sich davon fernzuhalten. Zu bedenken aber ist, was Erich Fried dichtete: »Weil ich mir nicht nochmals/ die Finger verbrennen will/ Weil da niemand mehr durchsieht/ sondern höchstens noch mehr kaputt geht/ Weil man nie weiß/ wie einem das schaden kann/ Das sind Todesursachen/ zu schreiben auf unsere Gräber/ die nicht mehr gegraben werden/ wenn das die Ursachen sind.« Deshalb elf Thesen, warum unseres Erachtens die Sammlungsbewegung kritische Solidarität und Mitgestalten braucht.

1. These: Die EU und Deutschland sind in der kritischen Epoche des Interregnums.

Die Autoren

Michael Brie, Jahrgang 1954, war Professor für Sozialphilosophie an der Berliner Humboldt Universität und arbeitet seit langem für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Dieter Klein, Jahrgang 1931, ist Ökonom sowie Politikwissenschaftler und hatte einen Lehrstuhl an der Humboldt Universität inne.

Es gibt Zeiten, in denen Ereignisse jäh alles verändern können. Dies sind die kritischen Epochen. Und wenn dann plötzlich ökonomische Krisen einschlagen wie die von 2008 oder politische wie beim Zustrom von Flüchtlingen aus jenen Ländern, die mit Hilfe von USA und NATO in Krieg gestürzt wurden, wird deutlich, was Antonio Gramsci schrieb: »Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.«

2. These: In den Zwischenzeiten des Interregnums wird darum gekämpft, wie ein neues Ganzes gestaltet werden kann.

Ob es bei Krisen wirklich zur Herausbildung eines grundlegend neuen Ganzen kommt, ist offen. Ein neues Ganzes würde die Kräfte, Elemente, Strukturen in der Gesellschaft ökonomisch, politisch, kulturell neu miteinander verbinden. Ein neuer hegemonialer Block entstünde, eine neue Führungsgruppe käme an die Macht. Den Anspruch auf dieses Neue erheben gegenwärtig die sich immer klarer akzentuierende und stärkende Neue Rechte und eine bisher weit weniger selbstbewusste und viel schwächere Neue Linke.

3. These: Die realen Alternativen sind ein reformiertes Weiter-So oder ein rechter bzw. linker Richtungswechsel der Politik.

Über dreißig Jahre lang wurde in der Bundesrepublik versucht, eine Mitte-Links-Regierung zu schaffen. Und jene Regierung, die dieser Vorstellung formell am ehesten entsprach, die unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer, hat dem Neoliberalismus erst zum Durchmarsch verholfen und die Entstehung einer neuen Rechten damit ermöglicht. Mit der Krise des Neoliberalismus ist eine neue Lage entstanden. Wirkliche Alternativen zum Weiter-So der Merkel-Seehofer-Scholz-Regierung mit ihren nationalistischen wie sozialen Zugeständnissen sind möglich. Dies hat die neue Rechte destruktiv begriffen. Die Linke dagegen muss sich erst darauf einstellen.

4. These: In großen Krisen ist es wieder da – »das Volk«.

Wenn in einem Interregnum das Ganze in Frage gestellt wird, dann geschieht dies unter Berufung auf das Gemeinsame. Dass dies mehr als eine leere Floskel ist, zeigt sich dann, wenn die alten »Volksparteien« schrumpfen oder ganz verschwinden und neue aufsteigen im Namen der Entrüsteten, derer, die sich verkauft und verraten fühlen, vom Abstieg bedroht, unsicher. Wenn die Straßen voll jener sind, die »Wir sind die 99 Prozent!« oder »Wir sind das Volk!« für sich in Anspruch nehmen. Es ist der demokratische Augenblick und er richtet sich gegen die jetzt Herrschenden. »Geht alle weg!« ist der Kampfruf. Er kann von rechts oder links, autoritär oder emanzipativ genutzt werden.

5. These: Die Mosaik-Linke ist gespalten, weil ihr das linke Ganze fehlt

Der Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban hat vor Jahren die Vision einer Mosaik-Linken ins Gespräch gebracht – vielfach verschieden und doch gemeinsam handlungsfähig. Jüngst hat er in den Blättern für deutsche und internationale Politik besorgt gefragt, ob diese Mosaik-Linken nicht an der Migrationsfrage scheitern könnte. Sie könnte aber auch an der Frage der weiteren Braunkohleverstromung versagen oder am Gegensatz zwischen den Löhnen in den Exportindustrien und bei den Dienstleistern der Post oder im Pflegebereich bzw. im Bereich der Rentenpolitik. Ohne strukturelle Veränderung von unten und zugleich mit massiver staatlicher Unterstützung von oben lassen sich diese Gegensätze nicht vermitteln. Es braucht ein linkes Ganzes.

6. These: Die falschen Gegensätze müssen in einem neuen solidarischen Ganzen überwunden werden.

Voraussetzung für eine linkes Ganzes ist, dass falsche Gegensätze überwunden werden. Die Losung des Instituts Solidarische Moderne »Solidarität statt Heimat« war ein solcher falscher Gegensatz. Er versetzte alle in einen zerstörerischen Konflikt. Die eigentliche Frage ist, wie Solidarität, auch und gerade globale Solidarität, mit der Bewahrung und Entwicklung von Heimat verbunden werden kann – hier wie in den Ländern des globalen Südens. Die Thematisierung der ökonomischen und sozialen Belastung durch Schutzbedürftige für die Aufnahmeländer wird die Sammlungsbewegung dann gegen Einflüsse von rechts stabilisieren, wenn sie verbunden wird mit gerechten Umverteilungsprozessen, mit dem Ausbau des Sozialstaats für die Leistungsbedürftigen im Lande selbst und für die Zugewanderten, mit der Balance zwischen menschenrechtsbasierter Offenheit und realistischer Abschätzung der Aufnahmefähigkeit der Zuwanderungsländer und keinesfalls zuletzt mit entschiedener solidarischer Umverteilung zur Verbesserung der Lage in den Herkunftsländern. Die Linke muss den vergifteten Boden dieser falschen Gegensätze verlassen und nach neuen Verbindungsformen der legitimen Anliegen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen suchen. Ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis hier in der Bundesrepublik, globale Solidarität und Offenheit für die unterschiedlichen Lebensentwürfe und Kulturen müssen zum Dreiklang linker Politik werden.

7. These: Die Linke muss Staat werden und dafür braucht es eine linke Regierung.

Anders als es manchmal gedacht, sind die lohnabhängigen Klassen vom Wesen nicht vereinigt, sondern gespalten. Nur so, in Konkurrenz zueinander und im Kampf gegeneinander um die knappen Ressourcen von guter Arbeit und gutem Leben, können sie beherrscht werden. Der globale wie der nationale kapitalistische Arbeitsmarkt sind das ideale Herrschaftsinstrument nach dem Prinzip »Divide et impera!« Nur mit Hilfe des Staates und im breiten Kampf um die Staatsmacht können die im Kapitalismus verwurzelten Gegensätze von Ökonomie und Ökologie, von Braunkohleförderung und erneuerbaren Energien, von Industrie- und Dienstleistungssektoren, von hier in Deutschland Lebenden und den zwei Milliarden Menschen, die in elendigen Bedingungen leben, solidarisch und verändernd, transformatorisch, d.h. mit dem Ziel eines neuen Ganzen, bearbeitet werden. Deshalb bedarf es einer linken Regierung.

8. These: Der Schulz-Hype zeigte, dass linke Mehrheiten möglich sind.

Im Februar und März 2017, ein halbes Jahr vor den Bundestagswahlen, lagen die SPD gemeinsam mit Grünen und Linkspartei bei 47 Prozent, nahe der absoluten Mehrheit. Es waren Umfrage im Martin-Schulz-Fieber. Am Wahlabend waren es nur noch bei 38,6 Prozent. Das Hoch zuvor machte eines klar: Linke Mehrheiten sind möglich. Sie sind auch deshalb möglich, weil zu zentralen Fragen sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit sowie Demokratie die Mehrheiten konstant im linken Feld liegen. Aber es fehlten der Wille zu einer linken Regierung, die Überzeugung von der Machbarkeit dezidiert linker ökonomischer, ökologischer, sozialer und demokratischer Projekte und einer ernsthaften solidarischen Neuausrichtung der EU und wirklicher Friedenspolitik.

9. These: Die Sammlungsbewegung kann ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu linken Mehrheiten werden.

Am 4. September dieses Jahres wurde das Gründungsmanifest der Sammlungsbewegung #aufstehen veröffentlicht. Seitdem gibt es Kritik, was alles fehlt oder noch unscharf ist. Es geht die Angst um, dass da eine neue linke Partei unter nationalistischem Vorzeichen entsteht. Die Geschichte des Manifests und seiner Bearbeitung zeigt in eine andere Richtung. Sicherlich ist der Weg nicht abgeschlossen. Was aber könnten, was sollten die nächsten Schritte sein?

Ausgehend von dem Gründungsimpetus könnte die Erarbeitung eines sehr praktischen Programms für eine linke Regierung in Deutschland stehen – durch Foren vor Ort und im Internet, durch Arbeitsgruppen und Kongresse, durch Abstimmungen im Netz und auf der Straße. Teil sollte ein Sofortprogramm sein, dass die Schritte der ersten einhundert Tage einer solchen Regierung vorgibt. Es wäre ein Programm für ein Deutschland der Vielen in einem Europa der Vielen.

Das Ziel der Sammlungsbewegung könnte es werden, die Erarbeitung eines solchen linken Regierungsprogramms durch die Bürgerinnen und Bürgern und mit Hilfe von Expertinnen und Experten zu ermöglichen und es bei einer symbolischen Volksabstimmung im Herbst 2019 zur Diskussion zu stellen. Im Anschluss daran sollten Neuwahlen gefordert werden – und dies nicht erst am Ende des weiteren Dahinsiechens der jetzigen Regierung, sondern für das Frühjahr 2020.

Die Sammlungsbewegung darf sich aber nicht auf Diskussionsprozesse beschränken. Sie muss hier und heute dazu beitragen, Menschen zu sammeln und zu mobilisieren, wenn es um konkrete Projekte, Initiativen vor Ort und um Vorstöße auf entscheidenden Feldern für das Leben der Menschen wie Miete, Rente, Pflege geht. Das ist auch die Gelegenheit für die Mitwirkung der neuen Bewegung an der solidarischen Vernetzung verschiedenster Aktionen und Akteure. Wenn die Sammlungsbewegung dazu beiträgt, die Kräfteverhältnisse deutlich nach links zu verschieben, würde vielleicht auch Rot-Rot-Grün wieder in dem Bereich des Möglichen rücken – jetzt aber als Projekt eines klaren, überzeugenden und vertrauenswürdigen linken Richtungswechsels. Dies alles ist offen.

10. These: Die LINKE sollte sich aktiv in die Arbeit an einem linken Regierungsprogramm einbringen.

Die Linkspartei ist gegenwärtig die einzige Partei, deren eigene Vorstellungen sich weitgehend mit den Forderungen nach einer breiten linken Regierung in Deutschland decken. Sie muss ein Interesse haben, diese Forderungen in einem breiten Bündnis mit vielen, die sonst nicht mit der Linkspartei zusammenarbeiten, zu entwickeln, zu diskutieren und zur Entscheidung zu stellen. Sie kann dabei auch zu einer Partei DIE LINKE PLUS werden.

Heute weiß niemand, was all dies in zwölf oder achtzehn Monaten bedeutet. Aber eines ist auf jeden Fall sicher: Die Linke in der Bundesrepublik muss jeden sinnvollen Versuch wagen, das Weiter-So von links aufzubrechen und damit zugleich der rechten Wende aktiv begegnen und eigene Mehrheiten schaffen. Angst vor dem Unwägbaren ist kein guter Ratgeber in Zeiten des Interregnums.

11. These: Die Linke hat die Welt zu lange nur sehr verschieden kritisiert, es kommt aber darauf an, sie solidarisch zu verändern.

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