»Die Opfer jeder deutschen Wahl sind Flüchtlinge«

Die EU-Abgeordnete Cornelia Ernst über Bremser in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, die Reform der Dublin-Verordnung und den Streit zwischen Parlament und Rat

In den vergangenen Wochen hat es eine Reihe von Regierungstreffen zur europäischen Asyl- und Migrationspolitik gegeben, wie den Gipfel Ende letzter Woche. Was ist dabei herausgekommen?

Im Grunde genommen nichts Greifbares. Außer, dass gesagt wird, nicht alle EU-Staaten müssten Geflüchtete aufnehmen, sondern könnten auch andere Beiträge für eine Lösung der sogenannten Flüchtlingskrise leisten. Darüber kann man sicher reden. Aber das ist natürlich noch keine Lösung. Es sind viele Fragen offen, wie zum Beispiel der Umgang mit den 16.000 Flüchtlingen, die aus Italien, Griechenland und Ungarn aufgenommen werden sollen. Darüber ist auch auf dem Gipfel in Salzburg nicht gesprochen worden, geschweige denn über einen Vorschlag für eine neue Dublin-Verordnung. Die ist schon lange überfällig.

War unter österreichischer Ratspräsidentschaft etwas anderes zu erwarten?

Offen gesagt, habe ich nichts erwartet. Ebenso wenig übrigens, dass es bis zum Ende der Legislaturperiode des Europaparlaments zu Lösungen kommt. Ich vermute, der Rat wartet ab, um mit dem neuen Parlament, das vermutlich ein Stück rechter sein wird, zu verhandeln. Bis dahin wird versucht, mit den Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen irgendwelche Deals herbeizuführen. Sei es, dass Geflüchtete von dort nicht weiterreisen, oder am besten gleich in Lagern in den Drittländern festgehalten werden.

Abgesehen von der generellen Kritik an solchen Lagern: Die in Griechenland und Italien sind oft kaum besser als jene, die de facto bereits in einigen nordafrikanischen Staaten existieren ...

Ja, das stimmt, aber in Europa haben wir wenigstens noch Einfluss und können in diese Lager hinein. Da gibt es Anwälte, die sich dort kümmern, es gibt eine Asyl-Gesetzgebung. So schlecht manches in den Lagern in EU-Staaten auch ist – es ist allemal besser als das, was wir in afrikanischen Ländern sehen. Wir haben Anfang September einen Hilferuf aus Libyen erhalten, aus einem Asyllager, weil die Menschen dort nichts zu essen, nichts zu trinken bekommen, selbst Mütter mit kleinen Kindern nicht. Das sind wirklich keine Unterkünfte, sondern üble Gefängnisse.

Wer sind die Bremser bei der Reformierung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik?

Die großen Bremser sitzen ganz eindeutig in der Rechtsfront um den ungarischen Premier Orbán, die formiert sich immer stärker mit Ländern wie Polen, der Slowakei, Tschechien, wo auch der neue Präsident der klipp und klar gesagt hat, wir nehmen überhaupt niemanden auf. Und diese Front schließt dann ihre Reihen mit Italiens Rechten um Innenminister Salvini oder die österreichische FPÖ. Allerdings ist auch von solch »humanistischen« Ländern wie Frankreich aus innenpolitischen Erwägungen kein Einsatz für ein wirklich menschenwürdiges Asylsystem zu erwarten. Und die Deutschen haben ihren Seehofer …

Aber zumindest Angela Merkel steht doch für einen humanen Umgang mit Geflüchteten?

Sie spricht zwar davon, wird aber im Europäischen Rat keine Unterstützung finden. Letztlich hat Merkel immer den Schwanz eingezogen, wie es so schön heißt. Am Ende kommen die Wahlen und dann die nächsten Wahlen und, und, und … Die Opfer jeder deutschen Wahl sind Flüchtlinge, und das leider schon in schlechter Tradition.

Eine reformierte Dublin-Reform, für die sich Europaabgeordnete aus verschiedenen Fraktionen einsetzen, wäre ein Lösung?

Wenn man den Gesetzentwurf, also praktisch die Aufnahme von Flüchtlingen und die Verteilungen in Europa, so regeln würde, wie wir das vorschlagen, wäre das ein erheblicher Schritt nach vorn. Weil erstens alle Mitgliedsstaaten einbezogen und zweitens Kriterien eingeführt würden, wie mit Asylbewerbern umgegangen werden soll. Dass sie beispielsweise in Ländern aufgenommen werden können, zu denen sie eine Bindung haben, dass sie ein Recht auf Familienzusammenführung haben. Das wäre keine Revolution, aber eine deutliche Humanisierung im Bereich der Asylpolitik. Aber daran ist niemand interessiert. Mittlerweile ist es so weit, dass wir überlegen, ob wir als Parlament nicht bestimmte Initiativen des Rates – also Gesetze, an denen die Regierungen interessiert sind, – blockieren sollten.

Als Retourkutsche?

Ja, es scheint kein anderes Mittel zu geben.

Cornelia Ernst ist Sprecherin der LINKE-Abgeordneten im Europäischen Parlament und unter anderem Mitglied im Innenausschuss.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.