»Sprechen Sie Deutsch?«

Heiner Müllers Anekdoten

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine Anekdote hat gegenüber dem dickleibigen Roman den Vorteil, dass man nicht so lange auf die Pointe warten muss. Die Anekdote erfasst den Lauf der Welt, indem sie Startblock und Zielband ineinander übergehen lässt. Um ein Urteil über das Wesen der Dinge zu sprechen, genügt ihr gleichsam ein kurzer Prozess. Heiner Müller (1929 - 1995) hat dieses Genre der beiläufigen Kernweisheiten meisterhaft beherrscht. Mit geradezu tonlosem Desinteresse an Interpretation offenbarte er seine Wahrnehmungen. Er wollte die Welt, die sich nie und nimmer in eine Friedensgegend zu wandeln vermag, schlichtweg vernichten. Erst durch Dramatik, später mehr und mehr durch Interview und Anekdote. »seine letzte kunstart«, schrieb Volker Braun über diese Kürzest-Stücke. Exerzitien eines trickreiches Rollenspiels, bei dem der Dichter aufreizend helle ins Schwarzhumorige abtauchte.

Thomas Irmer hat knapp hundert Anekdoten (und Lieblingswitze) des Schriftstellers gesammelt. Nennt ihn durchgängig HM (die Initialen erinnern an die »Hamletmaschine«). In einer TV-Talkshow resümiert ein Gast: »Nach der Wende gab es doch viele Probleme. Leute verloren ihre Arbeit. Manche haben sich sogar umgebracht.« Einwurf Heiner Müllers. »Ja, aber es gab auch negative Entwicklungen.« Das ist er, der erwärmend kalte Ton. Die Pathosvernichtung. Jede Pointe ein Bekenntnis zum Grundauftrag des Denkens: Realität gegen den Strich zu bürsten - so zerzausen wir ihr das Fell, finden aber die Flöhe.

Müller, der Unaufwendige, der sich benahm, als wolle er am liebsten unsichtbar werden. Inszeniert in Bayreuth, geht beim Empfang zufällig hinter Gorbatschow und wird von Edmund Stoiber gefragt: »Sprechen Sie Deutsch?« Auf die Frage, warum er immer so leise rede, hat Müller geantwortet: »Damit ich jedem etwas anderes erzählen kann.« Und als er im Fernsehen seine Stasi-Kontakte einräumt, kommentiert er selber die Konsequenz: »Das war der Nobelpreis.«

Wirklichkeit wird in diesen Anekdoten gleichsam vervielfacht, indem tausend Spiegel hinter sie gestellt werden. Eher: Glasscherben - montiert zur Karikatur eines Spiegels. Zersprungenes Bewusstsein.

Das Büchlein soll fortgeschrieben werden. Einsendungen sind erwünscht. Steuern wir also Geschichten bei. Der Dramatiker erläuterte seinem Anwalt Gregor Gysi ewig lang ein lästiges Mietproblem. Der verstand nur Bahnhof und zitierte aus der »Weiberkomödie« Müllers: Ein DDR-Bauer steht an der deutsch-deutschen Grenze und sagt: »Ja ja, das Gras wächst von hüben und drüben, nur der Mensch braucht Papiere.« Die Widernatürlichkeit von Grenzen - präzis und lakonisch erfasst. Fast verzweifelt fragte Gregor Gysi den Dichter, wieso er das Mietproblem nicht ebenfalls so formuliere, dass es ihm einleuchte. Müller erwiderte: »Ich bitte Sie, wenn ich reden könnte, würde ich doch nicht schreiben.«

Heiner Müller: Anekdoten. Hrsg. von Thomas Irmer. Verlag Theater der Zeit, 112 S., brosch., 10 €.

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