Dancing Queen bleibt
Seit den Neuwahlen im Juni 2017 wird Theresa Mays baldiger Abgang als Premierministerin prophezeit. Doch sie regiert das Land noch immer
Wenn alljährlich im Herbst die britischen Parteien nacheinander zu ihren Kongressen zusammenkommen, ist dies die Zeit, in der sich Machtfragen stellen. Als die britische Premierministerin Theresa May im vergangenen Herbst ihre von Hustenanfällen überschattete Tolpatsch-Rede auf dem Parteitag der Tories hielt, sahen viele darin ein Omen für den baldigen Abgang. Auch um den diesjährigen Parteitag herum verdichteten sich Gerüchte um Neuwahlen und ein nahendes Ende von Mays Amtszeit. Nach einem Bericht des »Daily Telegraph«, der sich auf nicht näher genannte Quellen berief, gehe es nicht mehr um die Frage, ob sie Regierungschefin bleibe, sondern wann sie gehe. Neu ist diese Art von Gerüchten nicht. Seit May mit den vorgezogenen Wahlen im Juni 2017 einen herben Machtverlust einstecken musste und ihre Mehrheit im Unterhaus verlor, wird regelmäßig der Fall der Premierministerin prophezeit. Man muss allerdings konstatieren: May ist noch immer Regierungschefin Großbritanniens. Und sie wird es aller Voraussicht nach auch bleiben, mindestens bis der Brexit in einem halben Jahr - in welcher Form auch immer - vollzogen ist.
Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens: Aus Sicht der beteiligten Akteure des alles überschattenden Brexit-Theaters sind schlicht keine Alternativen in Sicht. Vor einigen Tagen brachte das britische Boulevardblatt »The Sun« eine große Geschichte zu der Frage, wer Großbritanniens nächster Premierminister werden könnte, sollte Theresa May fallen. Die Antworten sind gleichzeitig auch ein Teil der Antwort auf die Frage, warum selbige trotz aller Schwächen und aller Turbulenzen ihrer bisherigen Amtszeit noch immer da ist. Denn wer da in den Startlöchern steht, ist polarisierend - und unkalkulierbar. Bei den Tories sind es vor allem fundamentalistische Spinner wie Boris Johnson oder Jacob Rees-Moog, die danach streben, May zu beerben. Und aus der Opposition hat sich Labour-Chef Jeremy Corbyn schon längst in Stellung gebracht. Er ist der wahrscheinlichste nächste Premierminister, sollte es zeitnah Neuwahlen geben. Doch das fürchten genau aus diesem Grund nicht nur die Tories, sondern auch Teile der Labour-Party selbst. Denn ein Premier Corbyn ist auch für viele aus der alten Blair-Garde eine noch gruseligere Vorstellung als weitere Monate oder gar Jahre mit einer schwachen May.
Der zweite Grund dafür, dass die 62-Jährige mehr oder weniger fest im Sattel sitzt, trotz der ständigen Angriffe aus den eigenen Reihen: Das Vereinigte Königreich ist in der Frage des Brexit tief gespalten. Eine knappe Mehrheit stimmte 2016 für den Austritt, inzwischen sähe es Umfragen zufolge umgekehrt aus. Ein zweites Referendum wird debattiert.
Die Premierministerin ist gewissermaßen die Verkörperung dieser Zerissenheit, sie vereint in sich mehrere Brexit-Positionen, während andere - wie Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg - kompromisslos für eine Richtung stehen und damit ungeeignet sind, Mehrheiten zu organisieren. May selbst war zunächst gegen den Austritt ihres Landes aus der EU. Dann machte sie es zu ihrer Lebensaufgabe, ihn umzusetzen - aus Loyalität gegenüber der Konservativen Partei und dem Votum der britischen Bürger, wie sie selbst behauptet. Dass sie die von ihrem Vorgänger eingebrockte Suppe auslöffeln solle, war der Deal, mit dem die frühere Innenministerin May 2016, kurz nach dem Brexit-Referendum, an die Macht kam. David Cameron hatte den Hut genommen, als in dem von ihm anberaumten Plebiszit eine knappe Mehrheit für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU votierte und damit nicht dem Rat des Premiers folgte.
Dass May nicht zu den Hardlinern der Tories gehört, den Brexit selbst zunächst ablehnte und herumlaviert auf der Suche nach einem Kompromiss mit der EU, ist also nicht nur Ausdruck von Schwäche - es ist vielmehr für die derzeitige Stimmungslage im Land die sinnfällige Entsprechung in Gestalt der Premierministerin.
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