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Die Schweigespirale einer Familie und ein Schritt ins Freie

Natascha Wodin wollte ihrem Vater Gerechtigkeit widerfahren lassen und nahm ihren Roman »Einmal lebt ich« von 1989 zur Grundlage für ein neues Buch

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit diesem Buch möchte Natascha Wodin ihrem Vater so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren lassen. Denn der Tyrann, der Schläger, der Trinker, den sie so leidvoll erlebt und in verschiedenen Büchern beschrieben hat, war selbst ein Opfer. 1900 im zaristischen Russland geboren, früh zum Waisenkind geworden, im fremden Westen »Witwer einer Selbstmörderin«. Dazwischen Zwangsarbeiter unter Hitler und in der Sowjetunion als »Kollaborateur und Vaterlandsverräter« denunziert.

Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel.
Rowohlt Verlag, 240 S., geb., 20 €.

In ihrem Roman »Einmal lebt ich« von 1989 stellte Wodin bereits viele brennende Fragen. Prägende Erlebnisse des Vaters blieben im Dunkeln, die Verwüstungen in einem mörderischen Jahrhundert ungekannt. Auch im neuen Buch muss manches offen bleiben. Der Vater: ein Fremder. »Wo war er in der Zeit des Stalin’schen Terrors, während der ›Säuberungen‹, als zahllose Menschen nachts abgeholt wurden und nie wiederkamen? Wie hatte er den deutschen Angriffskrieg überlebt, in dem nach neuesten Schätzungen dreißig Millionen Sowjetbürger umgekommen sind?« Als sie durch Zufall auf einen Bruder ihres Vaters in Moskau stößt und von ihm eine Fotografie gezeigt bekommt, das Bild einer ersten, verheimlichten Frau, einer Jüdin, und zwei Kindern, wächst in ihr ein ungeheuerlicher Verdacht, den sie heute freilich vorsichtiger und fragender formuliert als noch vor dreißig Jahren.

»Hatte er Frau und Kinder etwa verlassen, weil er meine Mutter kennengelernt hatte, im Krieg also, als in der Ukraine die deutschen Judenmörder wüteten? … War er zu dieser Zeit mit einer um zwanzig Jahre jüngeren Frau auf und davon gegangen, ins Land der Mörder? War das das Geheimnis meines Vaters, das Zentrum seines Schweigens? Oder tat ich ihm unrecht mit meinem ungeheuerlichen Verdacht?«

Das Schweigen des Vaters siegt. »Aber wenn es wirklich eine so einfache Geschichte war«, fügt Wodin in ihrem Roman von 1989 hinzu, wenn es also eine ganz normale Ehescheidung gewesen sei: »Warum hätte mein Vater sie mir dann verschweigen sollen?« Im neuen Buch versucht Wodin nun, Gründe für den Terror gegen Ehefrau und Tochter zu finden. Sie erkennt und benennt in ihrem Vater das Opfer, das er gewesen ist. Als 72-jährige Schriftstellerin nimmt sie es zur Kenntnis und drückt es in Worten aus, die sie vor dreißig Jahren noch nicht finden konnte oder wollte. »Ist das deutsche Arbeitslager ein böses Erwachen für ihn oder bloß die Steigerung einer Lebensbrutalität, an die er seit je gewöhnt ist? … Er war aus dem Grauen eines totalitären Regimes in das noch größere Grauen eines anderen geraten, und vermutlich hatte er erst nach seiner Ankunft in Deutschland begriffen, dass er hier als rassisch minderwertiges Lebewesen galt, dass man in ihm nichts anderes sah als eine Arbeitsmaschine.«

In einer Vorbemerkung weist der Verlag darauf hin, dass das aktuelle Buch »in Anlehnung an Natascha Wodins Roman ›Einmal lebt ich‹ entstanden« ist. Jenen Roman hatte die Schriftstellerin vor rund dreißig Jahren als Ansprache oder Klagelied an das ungeborene Kind verfasst. Dieser Aufbau fällt hier weg. Die Geschichte ist nun rein autobiographisch erzählt, und der Verlag verzichtet auch auf eine Genrebezeichnung.

Wodin hat das Pathos aus dem dreißig Jahre alten Buch getilgt, sie hat ihre Sprache entschlackt, sie wirkt gereifter heute. Verschiedene neue Passagen kamen hinzu - vor allem die gespenstischen Szenen aus dem Pflegeheim des Vaters. Auch die jüngere, schweigsame Schwester ist hier nun erwähnt, und man erfährt mehr über Natascha Wodins Leben auf der Straße, als sie vor dem gewalttätigen Vater davongerannt war. Daneben mischt die Schriftstellerin ihre Karten von 1989 neu. Sie schüttelt den Text ordentlich durch, ordnet Teile anders an, übernimmt vieles. So ist ein weiteres ungeheuerliches Buch enstanden, bedrückend, verstörend, niederschmetternd. Dass sie überlebt hat, nach all den Torturen, die sie durchgemacht hat, kann man als Wunder bezeichnen.

Der Bestseller vom vergangenen Jahr, »Sie kam aus Mariupol«, das Buch über ihre Mutter, war von tiefreichender Recherche geprägt. Im Buch über ihren Vater begnügt sich die Autorin nun mit dem, was sie bisher in Erfahrung gebracht hat. Dass sie die Schweigespirale in ihrer Familie mit ihrem literarischen Schaffen gebrochen hat, ist der Kern ihres Lebenswerks. Wodin hat es mit dieser überarbeiteten und ergänzten Neufassung ihres Romans von 1989 nun abgerundet.

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