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Nicht bloß Marxerei
Rolf Hecker gibt Einblicke in mühselige wie beglückende Forschungsarbeit
Zum Begriff »Marxologie« weiß der Duden dreierlei: Erstens bezeichne er die »Wissenschaft, die sich mit dem Marxismus beschäftigt«. Zweitens weist das Nachschlagewerk darauf hin, das Wort werde »meist scherzhaft oder abwertend« verwandt. Drittens: »Marxologie« sei »veraltend«, der Begriff komme also langsam aber sicher außer Gebrauch.
• Rolf Hecker: Springpunkte. Beiträge zur Marx- Forschung und »Kapital«- Diskussion.
Karl Dietz, 318 S., br., 18 €.
Schade eigentlich. Wenn das Wort hier dennoch benutzt wird, dann weder aus Traditionshuberei und noch weniger, weil damit etwas ins Lächerliche oder Negative gezogen werden soll. Sondern weil sein Gebrauch auf das hier zu besprechende Buch ganz hervorragend passt: »Springpunkte« versammelt »Beiträge zur Marx-Forschung und ›Kapital‹-Diskussion«, allerdings nicht irgendwelche, sondern 19 Texte aus der Feder von Rolf Hecker, einem der großen Marxforscher unserer Zeit.
Darf man Autoren wie Hecker als »Marxologen« bezeichnen? Man sollte es sogar, wenn man sich darauf einigen könnte, dass »-logie« vor allem etwas mit Lehre, mit Sinn, mit Vernunft zu tun hat. Denn das steckt an ursprünglicher Bedeutung in dem Suffix - und es bezeichnet das Wirken von Rolf Hecker, seine wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung mit dem Werk von Karl Marx recht gut. Es gibt nicht viele Experten seines Ranges in diesem Gebiet: als Bearbeiter von MEGA- und MEW-Bänden, als Vorsitzender des Berliner MEGA-Fördervereins, als Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften und als Hochschullehrer darf man Hecker zu den großen »Marxologen« der Gegenwart zählen. Und der Band »Springpunkte« gibt davon beredt Auskunft.
Womit - außer für »Marxologen« - noch ein weiterer Begriff formuliert ist, der einer Erläuterung bedarf. Denn als »Springpunkt« hat Marx nichts Geringeres als den Kern seiner Analyse des Kapitalismus im ersten Band von »Das Kapital« bezeichnet: jenen Punkt nämlich, »um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht« - den Doppelcharakter der Warenform und der Arbeit selbst. Marx nannte dies in einem Brief an seinen Freund Friedrich Engels im August 1867 »das Beste an meinem Buch«.
Und wenn nun also ein Band mit einer Auswahl aus dem reichen Wirken Heckers den Titel »Springpunkte« trägt, liegt es nicht fern, diese Texte als einen Ausschnitt aus »dem Besten« des in diesem Jahr 65 gewordenen Ökonomen zu bezeichnen. Für viele mag ein Text wie »Zur Geschichte des Sechsten Kapitels ›Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses‹« auf den ersten Blick nicht einleuchtend sein, jedenfalls fällt er deutlich heraus aus einer Marx-Rezeption, die man anlässlich diverser Jahrestage zuletzt oft beobachten konnte, und die sich auf die Wiedergabe von Banalitäten (Marx ist immer noch aktuell), Vereinfachungen (Marx war oder war nicht Krisentheoretiker) oder politischen Ordnungsrastern (aber der Stalinismus!) beschränkte.
Hecker ist gegenüber solcher »Marxerei« eben ein echter »Marxologe«, nicht nur ein wahrer Experte, sondern eben auch ein »Nerd«, noch so ein Wort, in dem immer eine gewisse Bewunderung für die damit Bezeichneten und ihr Wissen drinsteckt. Anders gesprochen: Wer Klappentext-Marxismus zum Abschreiben für die nächste Hausarbeit sucht, wird hier nicht fündig; wer aber einen Eindruck davon bekommen will, was Auseinandersetzung mit Marx heißt, mit dem Gedankenprozess, der zum »Kapital« führte (und darüber hinaus), mit der Rezeption, mit den Feinheiten von kategorialen Bestimmungen, der ist hier gut bedient.
Hecker war nicht erst seit den 1990er Jahren an den Themen dran, das ist vielleicht ein kleiner Nachteil der Sammlung, dass sie sich bis auf eine Ausnahme auf Arbeit der späteren Jahre beschränkt. Michael Heinrich, der gerade den ersten Band seiner bahnbrechenden Marx-Biografie vorgelegt hat, spricht in seinem Vorwort zu den »Springpunkten« jene Zeit an, die »wechselseitigen Etikettierungen« der Experten der jeweils »anderen Seite« - mal als »Bürgerliche Marxologie« und mal als »dogmatischer Marxismus-Leninismus«.
Da taucht sie also wieder auf, die Marxologie, mit dem Wörtchen »bürgerlich« davor ein Aufkleber, eine Schublade, so wie »bürgerlich« selbst längst eine ist. Heinrich schreibt, die Etikettierungen hätten einmal »eine gewisse Berechtigung« gehabt, es sei aber heute »weit weniger bekannt«, dass es nicht nur im Westen, sondern auch in der DDR »neue Lektüren der Marxschen Theorie« gab, nicht zuletzt im Wirken Heckers vor 1989.
Heinrich schreibt von einem »neuen Umgang mit den Marxschen Texten und Theorien«, und auch wenn es üblich war, dass Beiträge zur Marxforschung in der DDR mit Lobhuldigungen an SED und gerade aktuelle Parteitagsbeschlüsse zu beginnen hatten, so wurden danach nicht selten »jenseits des bloßen Lehrbuchmarxismus Probleme der Entstehung und Entwicklung der Marxschen Theorie« untersucht. Noch mehr Beispiele dazu hätten den »Springpunkten« nicht geschadet.
Heinrich schildert unter anderem Begegnungen mit Hecker. Die erste fand noch kurz vor dem Mauerfall statt, beide befassten sich mit ähnlichen Fragen, etwa der Werttheorie oder dem Problem, wie Vorarbeiten und verschiedene Fassungen des »Kapital« Auskunft über den Gedankenprozess geben können, der zu einem Buch führte, das im wahrsten Sinne des Wortes »Geschichte machte«.
Um dieses Buch und seine Wirkung, um die Kommentierungen, die Marx’ Zeitgenossen in ihren Ausgaben eintrugen, um die verschiedenen Anläufe, eine kritische Gesamtausgabe herauszugeben, drehen sich Heckers »Springpunkte«. Der Berliner Karl Dietz Verlag, für den Hecker gerade erst die Herausgabe des 44. Bandes der berühmten »blauen Bände« mitbesorgt hat, legt mit der Sammlung Zeugnis von einer mühseligen und doch beglückenden Forschungsarbeit ab.
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