Traumata und Königin
Im Banne von Glauben und Macht: Die Opernsaison in Paris beginnt mit Meyerbeers «Hugenotten und Jarells »Bérénice«
In Paris gab es als Auftakt der Opernsaison zwei Werke, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Giacomo Meyerbeers »Hugenotten« in der wuchtigen Bastille und die Uraufführung von Michael Jarrells »Bérénice« im altehrwürdigen Palais Garnier. Der Chef des Orchesters Philippe Jordan widmete sich der Opernnovität - den französischen Opern-Blockbuster überließ er Michele Marlotti.
Dass die Grand opéra wie »Les Huguenots« eine französische Erfindung ist und hier ihre größte Blüte erlebte, war nicht immer so deutlich im Visier der Pariser Oper, wie es jetzt unter Stéphane Lissner der Fall ist. In dieser Spielzeit wird es aus diesem Genre auch noch die »Trojaner« von Hector Berlioz geben. Diesmal als Chefsache am Pult und inszeniert von Dmitri Tcherniakov.
Giacomo Meyerbeers »Les Huguenots« ist durch ambitionierte Inszenierungen etwa in Brüssel, Nürnberg oder Berlin in der letzten Zeit längst keine Ausgrabung mehr. Die Geschichte, die im Gemetzel der Bartholomäusnacht 1572 gipfelt und auch Marguerite de Valois, die Gattin von König Henri IV., zur Opernfigur macht, verbindet die historische Zuspitzung des europäischen Religionskonfliktes zwischen Katholiken und Protestanten im Nachgang der Reformation mit einer opernunvermeidlichen Lovestory zwischen dem Protestanten Raoul (Yosep Kang) und der Tochter des katholischen Scharfmachers Valentine (Ermonela Jaho). Vor allem Lisette Oropesa als Marguerite bleibt mit der scheinbaren Leichtigkeit ihrer halsbrecherischen Koloraturen im Gedächtnis.
Dass Regisseur Andreas Kriegenburg auf die Nachwirkungen dieses französisch-europäischen Traumas hinaus will, zeigt der Verweis auf ein imaginäres Jahr 2063 gleich zu Beginn, die Blutströme, die auf den Rahmen projiziert werden und die kühl abstrakte Ästhetik einer in transparente Segmente gegliederten Bühne samt eines unverbindlich historisierenden Kostümschicks. Was Kriegenburg aber liefert ist eine Kapitulation vor den Tableaus, auf die die großen Chorszenen in der Grand opéra allemal hinauslaufen. Es bleibt bei einer Wohlfühlästhetik, die weder psychologisch bohrt, noch historisch nachfragt: Eine Lehrvorführung in antiquierter Rumstehdramaturgie.
Das genaue Gegenteil liefert sein Kollege Claus Guth im Palais Garnier. Seine Uraufführungsinszenierung um das Ende der Beziehung zwischen der jüdischen Königin Bérénice und des designierten römischen Kaisers Titus ist ein Musterbeispiel von psychologischer Feinzeichnung und dosierter Opulenz. Christian Schmidt steuert drei klassizistische Räume bei und die Videos von rocafilm (Roland Horvath und Carmen Zimmermann) erweitern das Ganze um eine weitere Dimension. Die Sängerin der Titelpartie, Barbara Hannigan, ist im wirklichen Leben eine der amtierenden Königinnen der Opernbühne. Diesmal ist sie mit jeder Faser und mit jedem Ton die jüdische Königin Bérénice. Da Bo Skovhus jener Titus ist, der sie liebt und als Kaiser akzeptiert werden will - was nur ohne sie geht - wird aus ihrem schmerzvollen Abschied ein atemberaubendes Kammerspiel. Das Libretto hat der Schweizer Komponist Michael Jarrell, der auch schon Christa Wolfs »Kassandra« als Oper vertont hat, selbst aus Jean Racines gleichnamiger Tragödie aus dem Jahre 1670 destilliert und in vier Sequenzen gruppiert. Die Musik beginnt wie aus dem Nichts, zieht langsam ihre Kreise, so wie Wellen, die sich langsam ausbreiten. Sie trägt mühelos ariose Aufschwünge und das Parlando des Leidens. Und sie eskaliert, wenn Bérénice in ihrer Verzweiflung über das Aus all ihrer Hoffnungen mit vollem Körpereinsatz auf Titus losgeht.
Diese beiden Neuproduktionen in der Bastille und im Palais Garnier knüpfen zum Spielzeitbeginn an die Zeiten an, als Paris die Welthauptstadt der Oper war.
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