- Kultur
- Fotografie von Rineke Dijkstra
Annäherung durch Langsamkeit
Rineke Dijkstra hat mit ihrer Porträtfotografie das Genre neu interpretiert. Ein Überblick über ihr Werk in der Berlinischen Galerie
Sich bei Rineke Dikjstras Fotografien an die holländische Porträtmalerei des 17. und 18. Jahrhunderts erinnert zu fühlen, ist nicht zu weit hergeholt. Zum einen ist die Fotografin 1959 in Holland geboren und lebt und arbeitet in Amsterdam, zum anderen erzählte sie selbst, als Kind all die Meister in den großen Museen bewundert und aufgesogen zu haben. Die holländische Porträtkunst des Barock war lange einzigartig in Europa, weil die Künstler versuchten, die Dargestellten in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu durchdringen. Dabei verzichteten sie weitgehend auf Idealisierungen, sondern schlossen das Hässliche und Gefühlslagen wie Melancholie oder Resignation nicht aus. Natürlich wäre es vermessen, eine direkte Linie von Rembrandt, Vermeer und anderen in die Gegenwart zu Rineke Dijkstras Porträts zu ziehen, aber ihre Herangehensweise und ihr Fokus auf subtile Details und Posen der von ihr Porträtierten lässt die großen Vorbilder durchaus durchscheinen.
Rineke Dikjstra begann nach ihrem Studium an der Amsterdamer Kunstakademie und zeitweiliger Arbeit als freie Fotografin Anfang der 90er Jahre mit der intensiven Arbeit an ihrer ersten Porträtserie, mit der sie rasch bekannt wurde. Die Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen an Stränden in Holland, den USA und zahlreichen Ländern West- und Osteuropas, erregten Aufsehen. In der Zeit der frühen 90er, als die zeitgenössische europäische Fotografie geprägt war von den großformatigen Abstraktionen der sogenannten Düsseldorfer Schule um Thomas Ruff, Thomas Struth oder Candida Höfer, brachten ihre Bilder frischen Wind in die künstlerische Fotografie. Die ostdeutsche Fotografie mit ihrem ganz eigenen humanistischen Menschenbild harrte damals noch der Entdeckung und spielte in der internationalen Fotoszene kaum eine Rolle. Im Gegensatz zu den unterkühlten wachsfigurenartigen Porträts von Thomas Ruff, die zu der Zeit en vogue waren, besaßen Dijkstras Protagonisten eine unverwechselbare Individualität und teilten etwas von sich mit, was nicht bewusst in Szene gesetzt, nicht kontrolliert oder intendiert war.
Eine Möglichkeit der Annäherung ist die Langsamkeit. Sich Zeit zu nehmen, den Protagonisten vor der Kamera zum Akteur in eigener Sache zu machen und gemeinsam das Porträt zu erarbeiten, beschreibt die Arbeitsweise Dikjstras. Kennzeichnend für ihre Bilder sind die Ruhe und Konzentration des Ausdrucks in den Gesichtern der Porträtierten. Das ist zum einem durch die Technik bedingt. Dikjstra arbeitet mit einer Großformatkamera, die – man braucht ein Stativ, die Kamera muss eingerichtet werden – schnelle Schnappschüsse schon technisch unmöglich macht und ein Sich-Einlassen auf den Prozess des Fotografiertwerdens geradezu erzwingt. Dass ihre Protagonisten vor der Kamera aber so ganz bei sich sind und sich scheinbar dem Betrachter öffnen, hat freilich ebenso viel mit dem psychologischen Geschick der Akteurin hinter der Kamera zu tun, mit ihrer Lebenserfahrung und ihrem Gespür für die Inszenierung. Meist stehen die Porträtierten durch den unscharfen Hintergrund isoliert von ihrer Umgebung frontal vor der Kamera. Das unterstützende Licht und die leichte Untersicht verleiht ihnen etwas Erhabenes, das Großformat lässt darüber hinaus jedes kleine Detail zum Bestandteil der Erzählung werden.
Kennzeichnend für ihre Bilder sind die Ruhe und Konzentration des Ausdrucks in den Gesichtern.
Welche Herausforderung es für einen Fotografen ist, sich dem Menschen vor der Kamera anzunähern und dessen Wesen mittels eines Porträts zu ergründen, weiß jeder, der schon einmal den Versuch unternommen hat. Nicht nur sind Kameras in Form von Handys heute omnipräsent; mit den »sozialen Medien« einhergehend hat sich ein Misstrauen gegen die Fotografie aus Furcht vor einem Kontrollverlust etabliert, was einen unbefangenen Umgang mit dem Fotografiertwerden zunehmend erschwert. Zum anderen gibt es eine natürliche Scheu davor, sich von seinem Umfeld isoliert der Kamera zu offenbaren, so dass die meisten Menschen vor der Linse des Fotografen sich entweder verkrampfen oder eine künstliche Pose einnehmen. Kaum etwas ist fotografisch so herausfordernd und verlangt Behutsamkeit und menschliche Kompetenz wie das Porträt.
Die Auseinandersetzung mit dem Genre des Porträts hat Dijkstras Oeuvre geprägt. Nach und neben der Strandserie entstanden Porträts von Müttern, die noch gezeichnet waren von der unmittelbar zuvor erfolgten Geburt. Die »Echtheit« in den Gesichtern im Moment scheinbar übermenschlicher Anstrengung interessierte Dijkstra. Dieser Art von Authentizität spürte sie auch in ihren Torero-Porträts von 1994 nach. Sie fotografierte portugiesische Stierkämpfer unmittelbar nach Verlassen der Arena. Frontal und vor neutralem Hintergrund aufgenommen, wurden die sichtbaren Spuren des Kampfes, Blutspritzer auf der Kleidung und die Erschöpfung in den Gesichtern zum Spiegelbild einer existenziellen Grenzerfahrung.
Ihr Hauptaugenmerk galt und gilt jedoch Kindern und Jugendlichen, ob in den Strandporträts oder in der Parkserie, für die sie Kinder beim Spielen beobachtete und porträtierte, unter anderem im Berliner Tiergarten. Eine andauernde Faszination hegt Dijkstra auch für das Nachtleben. 1994 begann sie, Jugendliche in einem Liverpooler Nachtclub während der Tanzpausen zu porträtieren. Die Clubs stehen bei ihr exemplarisch für den Übergang vom Kind- zum Erwachsensein, als Ort, an dem Jugendliche mittels Posen, Kleidung und Make-Up ihre Wirkung auf andere entdecken und den Umgang mit dem anderen Geschlecht einüben. Zwar rauchen sie oder haben ein Bier in der Hand, aber der coole Gestus wirkt noch unbeholfen und die Selbstsicherheit gespielt.
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Spätestens bei diesem Sujet wurde Dijkstra auch bewusst, dass das Medium Fotografie seine Grenzen hat; letztlich kann ein Foto eben nur den Moment einfangen, und die Möglichkeit, mittels eines Bildes (oder auch mehrerer) Geschichte(n) zu erzählen, ist limitiert. So entdeckte sie das Video als erzählerisches Mittel und Sound, Bewegung und Schnitt hielten Einzug in ihre Arbeit. Ein Jahr später kehrte sie nach Liverpool zurück, um mittels des Bewegtbildes mehr über die Jugendlichen zu erfahren und zu erzählen.
Es lohnt unbedingt, sich die Zeit zu nehmen und die Videoarbeiten in der Ausstellung anzuschauen. Besonders die Videoinstallation »I See a Woman Crying« verdeutlicht, worum es Dijkstra geht. In ihr sehen wir eine Gruppe englischer Schulkinder ein Gemälde beschreiben, das unsichtbar bleibt. Sind die Kinder am Anfang wegen ihrer Schuluniformen kaum unterscheidbar, schält sich beim Beschreiben und Interpretieren des Gemäldes bald die Individualität des Einzelnen heraus und schnell wird klar, wie sehr die Interpretation von eigenen Prägungen abhängt und etwas über das Kind selbst verrät.
Neben einer Auswahl ihrer Videoarbeiten präsentiert die Einzelausstellung in der Berlinischen Galerie einen fundierten Überblick über das bisherige Gesamtwerk Dijkstras. Mit ihren Bildern von jungen Menschen und deren Unvollkommenheit und Anmut lehrt uns die Fotografin, das Schöne und Verletzliche der Jugend zu sehen – und zu schätzen, denn es wird vergehen.
Rineke Dijkstra, »Still – Moving. Porträts 1992–2024«. Bis 10.2.2025 in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobsstraße 124-128, Berlin. Der Katalog ist im Distanz-Verlag erschienen, 160 S., 40 €.
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