Der ukrainische Robin Hood

Mark Zak erzählt die Geschichte des Anarchisten Nestor Machno und seiner legendären Volksbewegung und Bauernarmee Machnowtschina

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 4 Min.

Von den ersten Seiten an taucht man unmittelbar in das Leben des Protagonisten ein. Der 1888 geborene Nestor Machno ist als Kind »immer dreckig, in zerfetzten Lumpen, barfüßig, nach Mist stinkend«. Dabei entwickelt er »Zorn, Groll und sogar Hass« gegenüber den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft und ist zu jeder Schlägerei bereit, wie seine Schwägerin berichtet. Aus Nestor Machno sollte einer der bedeutendsten Anarchisten der Welt werden.

Eine Biografie im eigentlichen Sinne hat Mark Zak mit seinem Buch über Machno nicht vorgelegt. Es ist vielmehr eine Materialsammlung aus Memoiren, Berichten, Verhörprotokollen und Briefen von Zeitzeug*innen über den ukrainischen Anarchisten. Durch die Montageform des Buches gelingt es Zak, authentische Innenansichten und eine unmittelbare Nähe zum Thema herzustellen. In - extra gekennzeichneten - Einschüben bettet Zak die Berichte historisch ein.

Nach und nach kommt Machno mit den Schriften Proudhons, Bakunins und Kropotkins in Berührung und sieht bald die Notwendigkeit der praktischen Arbeit: In der von Armut und Ausbeutung geprägten Ukraine ist dies der Einsatz für die Bäuer*innen. Und so führt er mit seinen Leuten bald »Expropriationen« - Raubzüge gegen Großgrundbesitzer*innen - durch. »Wir nahmen reichen Leuten Geld und Eigentum weg und besorgten dafür Bücher und Waffen«, schreibt Machno. Im Jahre 1910 wird er dafür durch ein Militärgericht zum Tode verurteilt, die Strafe später jedoch in lebenslängliche Haft reduziert. Durch die Februarrevolution gelangt er wieder in die Freiheit. Machno schildert: »Ich komme auf die Straße, wankend, da die fehlenden Ketten an den Füßen das Gleichgewicht meines Ganges stören.«

Als Vorsitzender des Bauernverbandes seines Heimatorts Gulajple baut der Anarchist ab März 1917 eine Bauern-Armee, die Machnowtschina auf. Der beginnende Bürgerkrieg tobt nirgends so stark wie in der Ukraine. Das Eingreifen polnischer, bolschewistischer und rest-ukrainischer Militärverbände mündet in langwierigen Kriegshandlungen, in denen die Machno-Bewegung über vier Jahre ihre Positionen gegen die Weiße Armee verteidigen kann.

Zak schafft es durch die Berichte, die Grausamkeiten des Krieges plastisch vor Augen zu führen - »die dünne Schicht Zivilisation ist abgetragen«, schreibt der Anarchist Alexander Berkmann. Auch vor seinem Helden Machno macht Zak nicht halt. Er berichtet, wie dieser einen Pfarrer bei lebendigen Leib in den Ofen einer Lokomotive schmiss. Seine Gewalttätigkeit schildert Machno selbst: »In Wahrheit erschoss ich grundsätzlich jeden, der für Plünderungen und Gewalttätigkeit verantwortlich war.« Unter der schwarzen Fahne mit der Aufschrift »Freiheit oder Tod« erobern die Machnowzy nach und nach nahezu die gesamte Ukraine. Zak weiß hier von der »Obschtschina«, der Dorfgemeinschaft, zu berichten, an deren Ideen der eigentumslosen Selbstverwaltung der Bäuer*innen die Anarchisten um Machno anschließen konnten.

Doch im Sommer 1921 schrumpfen Machnos Truppen zusehends. Sie haben genug vom Krieg und die Neue Ökonomische Politik Lenins bringt auch vielen Bäuer*innen materielle Vorteile. Machno wird in den Kämpfen mehrfach verwundet und geht ins Ausland. Über Rumänien, Danzig und Berlin flieht er nach Paris, wo er sich 1927 mit Buenaventura Durruti trifft. Durch die Entwicklung in der Ukraine verbittert, zieht er sich mehr und mehr zurück. Am 25. Juli 1934 stirbt Machno an Tuberkulose.

Zak hat ein differenziertes und lesenswertes Porträt des Bauernführers zusammengestellt. Die Feministin und Kommunismus-Forscherin Bini Adamczak fasst es in ihrem lesenswerten Nachwort folgendermaßen zusammen: »In der dichten und vielstimmigen Collage, die Mark Zak um Nestor Machno legt, erfahren wir einerseits von seiner Sensibilität gegenüber Ungerechtigkeit, andererseits von seiner Lust, anzugeben und anzuführen.« Mit seiner Bewegung verkörperte Machno eine andere Möglichkeit, die die Revolution hätte nehmen können - die Möglichkeit der kollektiven Selbstverwaltung der Bäuer*innen und Arbeiter*innen in einer herrschaftsfreien staatenlosen Gesellschaft. Diese Idee ist bis heute nicht verwirklicht und eingelöst worden. Um daran zu erinnern, lohnt die Lektüre von Zaks Buch uneingeschränkt.

Mark Zak: Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno. Edition Nautilus. Broschur, illustriert. 184 Seiten. 18 €

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!