»Wir hatten Angst, erschossen zu werden«

Vor 50 Jahren protestierten Tommie Smith und John Carlos gegen Rassismus in den USA. Geändert hat sich wenig

Es sind Bilder, die im Gedächtnis bleiben. Viel länger als Worte. Das berühmteste Bild von Tommie Smith und John Carlos wird dieser Tage 50 Jahre alt. Zwei schwarze Athleten, die ihre Fäuste nach oben strecken. Zwei schwarze Handschuhe. Irgendein Rassismusprotest, irgendwas mit Black Panther. Das war’s. Oder ist da noch mehr? Und ob. In diesem Bild stecken so viele Geschichten, dass selbst dieser Text nicht ausreichen wird, sie alle zu erzählen. Dabei wären sie es alle wert.

Am Anfang steht Harry Edwards. Ein paar Jahre älter als Smith und Carlos, ist auch er ein schwarzer Athlet, der dank eines Sportstipendiums ans College kam. Doch er gibt den Sport auf, will lieber die Ungerechtigkeiten angehen, die ihn umgeben. Als 1959 sein Studium beginnt, ist die Rassentrennung noch legal. Irgendwann will er nicht mehr mit Weißen spielen, die ihn nicht in ihre Burschenschaft aufnehmen, weil er schwarz ist. Edwards studiert Soziologie, lehrt dann an der San Jose State University in Kalifornien, Mitte der 60er Jahre ein Tummelplatz schwarzer Aktivisten.

Zu seinen Studenten gehören Smith, Carlos und Lee Evans. Die drei Leichtathleten bilden das national bekannte »Speed City Team«. Alle drei werden 1968 in Mexiko-Stadt Olympiamedaillen gewinnen, alle werden noch Weltrekord laufen - und alle drei sind Gefolgsleute von Edwards. Es ist die Zeit, in der junge Schwarze ihre Eltern als Feiglinge bezeichnen, weil sie sich gegen weiße Unterdrücker nicht zur Wehr setzen. Es ist die Zeit, in der militanter Aktivismus die Dominanz der pazifistischen Bürgerrechtsbewegung infrage stellt, besonders nachdem Malcolm X 1965 ermordet wird. Es ist die Zeit, in der aus Cassius Clay Muhammad Ali wird und der Boxweltmeister sich weigert, für die USA in Vietnam zu kämpfen.

Die Gruppe um Harry Edwards gründet 1967 das »Olympic Project for Human Rights« (OPHR). Sie drohen mit einem Olympiaboykott schwarzer US-Amerikaner. Auch eine Geschichte, von der kaum jemand weiß, da es nie zum Boykott gekommen ist. Doch die Debatte darüber sollte direkten Einfluss auf den 16. Oktober 1968 nehmen, den Tag, an dem Smith und Carlos ihre Fäuste ballen.

»Warum sollten wir alles für ein Land geben, in dem unsere Rechte beschnitten werden?«, sagt Smith einem Journalisten. Vier Monate vorher hat Ali seine Wehrdienstverweigerung ganz ähnlich begründet. Das OPHR stellt fünf Forderungen auf, die erfüllt werden sollen, um einen Boykott abzuwenden. So sollen die Apartheidregime Südafrikas und Südrhodesiens von den Spielen ausgeladen werden, Ali soll seine WM-Titel zurückbekommen, IOC-Präsident Avery Brundage seinen Posten räumen.

Die Geschichte des Sportfunktionärs Brundage hat schon viel früher begonnen und ihren ersten Höhepunkt in den 1920er Jahren erlebt, als er im Amt des Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees der USA (USOC) dafür sorgt, dass Hitlers Nazispiele 1936 in Berlin nicht boykottiert werden. Laut Brundage habe Politik keinen Platz bei Olympia. Mit dem Hitlergruß hat er dabei kein Problem. Mit Smith’ und Carlos’ Fäusten 30 Jahre später aber schon.

Auch wenn sich sogar weiße Athleten wie der Ruderachter aus Harvard für die Ziele des OPHR stark machen, wird nichts aus dem Boykott. Viele schwarze Athleten wollen sich nicht beteiligen. Darunter Weitspringer Bob Beamon. Auch für ihn hat Politik im Sport nichts zu suchen. »Wir wussten von Anfang an, dass wir den Boykott nicht durchsetzen konnten. Aber die Diskussion hat viele überlegen lassen, was sie in Mexiko tun könnten«, sagt Edwards später. Brundage aber will jeden Protest verhindern und droht, dass alle Aktion einen Ausschluss nach sich ziehen würde. »Das hat uns nur noch mehr motiviert«, erinnert sich John Evans, Favorit über 400 Meter.

Die 200 Meter werden zwei Tage vorher gelaufen. Und so wird der Protest von Smith und Carlos weltberühmt. Dabei gehören drei Sportler dazu, denn das Bild erzählt auch die Geschichte des Australiers Peter Norman. Er hat hinter Smith und vor Carlos Silber gewonnen. Norman ist Gegner der rassistischen »White Australia«-Politik. Als Smith und Carlos ihn dann über ihren Plan informieren, sagt er: »Ich glaube an Eure Sache. Ich will helfen.« Vom Steuermann des Ruderachters, Paul Hoffman, bekommt Norman einen OPHR-Anstecker, den er auf dem Podium trägt. Nur weiß das heute kaum jemand, weil er keine Hand nach oben streckt.

Auch nicht, dass Hoffman für seine Hilfe fast noch aus dem Achter fliegt. Oder dass Smith und Carlos mit weiteren Symbolen protestieren: Sie haben ihre Schuhe ausgezogen, um auf die Armut schwarzer Amerikaner hinzuweisen. Carlos trägt einen Rosenkranz in Erinnerung an Opfer von Lynchmorden. Er lässt seine Jacke offen aus Sympathie mit der Arbeiterklasse. Doch nach der Siegehrung redet alles nur über die Handschuhe, einem Erkennungszeichen der Black Panther Party und ganz allgemein der Bewegung für die Angleichung der Verhältnisse. Mehr Macht für Schwarze - Black Power.

Smith war nie Mitglied der Bewegung. »Klar bin ich schwarz, und natürlich waren wir in einer machtvollen Position. Aber das war ein Ruf nach Gerechtigkeit«, sagt er. Carlos ist der militantere der beiden, doch die Handschuhe sind von Smith. »Wir hatten Angst, erschossen zu werden«, sagen beide später. Immerhin ist es 1968. Das Jahr, in dem schon Martin Luther King und Bobby Kennedy ermordet wurden. Sie beten. Eine Hymne kann sehr lang sein.

Brundage besteht auf dem Rauswurf von Smith und Carlos. Als er droht, das komplette US-Team auszuschließen, müssen sie das Olympische Dorf verlassen. Brundage schickt zudem Jesse Owens zur Mannschaft, um zu erklären, dass »Politik bei den Wettkämpfen nichts verloren habe«. Doch die jungen Schwarzen sehen in ihm nur eine Marionette. Owens warnt: »Ihr werdet keinen Job finden, wenn ihr morgen nach Hause fahrt.« Lee Evans antwortet: »Wir finden schon heute keine.« Owens wird als Onkel Tom beschimpft, als einer, der sich den Weißen unterwirft. Smith sagt, Owens habe geweint.

Am selben Tag springt Bob Beamon 8,90 Meter weit. Noch heute ist das Olympischer Rekord. Weil Carlos und Smith rausgeschmissen wurden, überlegen plötzlich auch Außenstehende wie Beamon, ob sie protestieren. Der drittplatzierte Ralph Boston steht ebenfalls ohne Schuhe auf dem Siegerpodest, Beamon zieht sich immerhin die schwarzen Strümpfe für alle sichtbar bis kurz unter die Knie.

Drei weitere Afroamerikaner, darunter Lee Evans aus San Jose, dominieren über 400 Meter und tragen später schwarze Barretmützen, auch ein Zeichen der Black Panther. Ausgeschlossen wird niemand mehr, Evans daheim aber besonders angefeindet. Von Weißen für den Protest und von Schwarzen, weil er die Mütze während der Hymne absetzt.

Die US-Leichtathleten bilden 1968 vielleicht das beste Team, das es je gab. Acht Weltrekorde werden aufgestellt, alle von Schwarzen. Auch in den Staffeln laufen nur Afroamerikaner. Ihre Medaillen werden von den Weißen daheim gefeiert, ihre Proteste aber verteufelt. Smith und Carlos erhalten Hunderte Morddrohungen, Carlos’ Hund wird zerstückelt. Beide finden jahrelang keine gut bezahlten Jobs mehr. »Ich war hungrig, ich verlor mein Haus. Der Preis war hoch«, sagt Smith. Er wird in den 70ern Lehrer und Trainer. Carlos bekommt erst 1990 einen Job als Lauftrainer.

Heute treffen sich Smith und Carlos nur selten: auf Diskussionsveranstaltungen über Rassismus oder als ihnen 2005 an der San Jose State eine Statue gewidmet wird. Ansonsten sind sie zu verschieden, um Freunde zu werden. Dabei leben sie nur 20 Autominuten voneinander entfernt. Doch beide eint dieser Moment und die Überzeugung, es genauso wieder zu machen, auch wenn sich ihr Leben - und das vieler Schwarzer in den USA - in Sachen Gleichberechtigung und Teilhabe an der Macht kaum weiterentwickelt hat. Damals kämpfte die Black Panther Party für ein Ende der willkürlichen Polizeigewalt gegenüber Schwarzen. Heute tut das »Black Lives Matter«.

»50 Jahre! Man glaubt es kaum«, sagt der heute 74-jährige Smith. »Es haben sich nicht so viele Dinge geändert, wie ich gehofft hatte.« Auch ein schwarzer Präsident hat nicht den Wandel gebracht. Das Risiko Schwarzer, arm zu werden, ins Gefängnis zu kommen oder von der Polizei erschossen zu werden, ist immer noch viel höher in den USA als für Weiße. John Carlos ist da noch direkter: »50 Jahre rede ich schon über diese Scheiße, und nichts hat sich geändert. Ich könnte sterben, und im nächsten Leben wäre immer noch alles gleich. Unser heutiger Präsident beschimpft junge Schwarze als Hurensöhne, weil sie bei der Hymne knien. Und Polizisten kommen immer noch mit Morden davon.«

Womit wir bei der Geschichte von Colin Kaepernick angekommen wären. Egal, wie viele schwarze Athleten ihre Stimme seit 1968 erhoben haben, niemand kam auf ein ähnliches Echo wie Tommie Smith und John Carlos. Bis Kaepernick auch mit einem Bild begann. Ein Knie im Gras statt einer Faust in der Luft. Auch Footballer Kaepernick findet heute keinen Platz mehr in seinem Sport. Immerhin aber hat er einen Millionenvertrag mit Sponsor Nike. Vielleicht hat sich ja doch etwas zum Guten gewandelt.

Vielleicht aber auch nicht. Kaepernicks ehemaliger Teamkollege Eric Reid verklagt derzeit Mike Brown, den Besitzer der Cincinnati Bengals. Brown soll Reid eine Anstellung verweigert haben, weil dieser nicht auf den Hymnenprotest verzichten will. Das Brisante daran: Browns Vater hatte Tommie Smith ein Jahr nach dessen Protest in Mexiko als Spieler engagiert. »Heute wäre das viel schwieriger als damals«, sagt Mike Brown.

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