- Politik
- Brexit-Verhandlungen
Der Brexit-Stillstand
Nordirlandfrage bleibt ungelöst / Mehrheitsbeschaffer von der DUP drohen mit Ende ihrer Unterstützung für May
London. Eigentlich hätte diese Woche gefeiert werden sollen. Vertreter Londons und der EU haben in den vergangenen Wochen intensiv verhandelt. Die letzten Streitfragen, die das Brexit-Scheidungsabkommen und die Grundsätze des zukünftigen Verhältnisses betreffen, sollten am Wochenende geklärt werden. Alle Seiten gaben sich zuversichtlich. Man sei »sehr nah« an einer Einigung, erklärten noch vor wenigen Tagen Verhandlungsteilnehmer auf allen Seiten. Beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel, das am Mittwoch mit einem gemeinsamen Abendessen beginnt, sollte angestoßen werden.
Doch dann kam alles ganz anders. Die Gespräche wurden am Wochenende überraschend abgebrochen. EU-Verhandlungsführer Michel Barnier erklärte daraufhin, es sei nicht gelungen, die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der inneririschen Grenze zu überbrücken.
Die Situation ist ernst: Im schlimmsten Fall könnte das Problem dazu führen, dass die Brexit-Verhandlungen scheitern. Die Folge wäre ein »No Deal«-Brexit, also ein Brexit, bei dem Großbritannien die EU ganz ohne Abkommen verlässt.
Im Kern geht es darum, dass die EU von London verlangt, sich zu einer verbindlichen, dauerhaften Auffanglösung in der Grenzfrage bereitzuerklären, zu einem so genannten »Backstop«. Sollten die Gespräche über das zukünftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU scheitern, dann möchte Brüssel, dass Nordirland in der Zollunion mit der EU verbleibt. Auch Teile des Binnenmarkts sollen in der Region weiter gelten. So soll verhindert werden, dass es zwischen der Republik Irland und dem britisch verwalteten Nordirland wieder eine harte Grenze mit Grenz-, Qualitäts- und Zollkontrollen gibt. Die EU steht in dieser Frage geschlossen hinter Dublin.
Dabei hat die britische Regierung eigentlich schon vor Monaten einer solchen Lösung zugestimmt. Doch der damalige Brexit-Minister David Davis sorgte kurz darauf für Verärgerung, indem er öffentlich erklärte, es habe sich dabei lediglich um eine Formalität gehandelt. London sei nicht dazu verpflichtet, dieser Erklärung zu folgen. Brüssel reagierte empört. Die Brexit-Hardliner in Theresa Mays konservativer Partei haben sich seitdem vehement gegen diese Lösung ausgesprochen - vor allem, wenn sie auf unbestimmte Zeit gelten soll, wie es die EU fordert. Die Democratic Unionist Party (DUP), eine nordirische Regionalpartei, auf deren Stimmen Theresa Mays Minderheitsregierung im nationalen Parlament angewiesen ist, läuft dagegen Sturm.
Das Problem: Sollte Nordirland in der Zollunion und teilweise im Binnenmarkt verbleiben, dann würde die EU-Außengrenze für Waren effektiv durch die Irische See verlaufen. Nordirland wäre dann regulatorisch ein Stück weit von Großbritannien abgetrennt. Für die nordirischen Unionisten, die vehement auf ihre »britische« Identität pochen, wäre das ebenso indiskutabel wie für den rechten Rand bei den Tories. Vertreter beider Parteien haben in den vergangenen Tagen wiederholt öffentlich damit gedroht, gegen den endgültigen Brexit-Deal zu stimmen, falls Theresa May einem »Backstop« zustimmen sollte. Die DUP-Abgeordneten haben vor wenigen Tagen überraschend bei einer unwichtigeren Abstimmung im Unterhaus gegen die Regierung gestimmt. Das war offenbar als Warnschuss gedacht. Sollte Theresa May die Unterstützung der DUP verlieren, dürfte es nicht lange dauern, bis ihre Regierung stürzt.
DUP-Vizechef Nigel Dodds lässt keinen Zweifel daran, dass seine Partei dazu bereit wäre. In einem Interview mit der BBC sagte er, man würde der Regierung bei wichtigen Abstimmungen die Unterstützung entziehen, falls May »zu einer Auflösung« des Vereinten Königreichs beitragen sollte. »Wir würden nicht auf vorgezogene Neuwahlen drängen. Aber es gibt einen Punkt, an dem man sagen muss: Genug ist genug.« Die konservative Abgeordnete Anna Soubry, eine engagierte »Remainerin«, bezeichnete Dodds’ Äußerung als »atemberaubend verantwortungslos«. Die DUP-Abgeordneten seien für sich genommen »absolut nette Leute«, fügte Soubry hinzu. Als Gruppe seien sie »ein blühender Albtraum«.
May bemüht sich unterdessen darum, optimistisch zu klingen. In einer kurzfristig anberaumten Rede vor dem Unterhaus erklärte sie am Montag, ein Brexit-Deal sei »zu schaffen«. Jedoch sagte sie auch, Großbritannien müsse in der Lage sein, sich aus einer Backstop-Situation »zu befreien«. »Die Menschen machen sich zu Recht Sorgen, dass das, was vorübergehend sein sollte, zu einem permanenten Schwebezustand werden könnte - ohne dass je ein neues Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU vereinbart wird.« Die EU habe erklärt, sie werde sich mit der Möglichkeit einer Auffanglösung auseinandersetzen, die ganz Großbritannien und Nordirland einschließe.
Zu dem Vorschlag der EU, die faktische Außengrenze der EU in die Irische See zu verlegen, sagte May: »Wie ich schon viele Male gesagt habe: Ich könnte das nie akzeptieren, ganz gleich, wie unwahrscheinlich dieses Szenario ist.«
Die Nordirland-Frage ist für May nicht das einzige Problem. Denn die stockenden Brexit-Verhandlungen stärken auch ihre Gegner in den eigenen Reihen. Viele Brexit-Hardliner glauben offenbar, May sei der EU bei den Verhandlungen auch ohne Zugeständnisse bei der inneririschen Grenze zu weit entgegen gekommen. Als May vor wenigen Wochen bei einem ganztägigen Kabinettstreffen auf ihrem Landsitz in Chequers versuchte, ihre Minister auf einen Kompromissvorschlag gegenüber der EU einzuschwören, traten binnen weniger Tage aus Protest zwei führende Minister zurück: Außenminister Boris Johnson und - ausgerechnet - der damalige Brexit-Minister David Davis.
Beide haben seitdem mehrfach Mays gesamte Brexit-Strategie scharf attackiert. Sie verlangen einen härteren Kurs gegenüber Brüssel. Der Widerstand in den eigenen Reihen wächst. Das könnte dazu führen, dass am Ende der Brexit-Verhandlungen mehrere ihrer eigenen Abgeordneten gegen Mays Abkommen mit Brüssel stimmen - falls ein solches überhaupt zu Stande kommen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.