Der vergessene Protest

Die Turnerin Vera Caslavska wird in Tschechien noch immer verehrt. Für ihr Freiheitsstreben musste sie lange büßen.

Am Morgen des 30. August 2016 unterbrach das tschechische Fernsehen sein aktuelles Programm. Vera Caslavska war gestorben - nach einer Krebserkrankung, im Alter von 74 Jahren. Schnell leuchteten am Wenzelsplatz die ersten Kerzen, lagen Blumen. »Danke für alles, Vera!« stand auf Fotos geschrieben. Die spätere Trauerfeier im Nationaltheater wurde live im Fernsehen übertragen. Die Pragerin war vieles: siebenmalige Olympiasiegerin im Kunstturnen, Weltsportlerin des Jahres 1967, zusammen mit Jackie Kennedy Frau des Jahres 1968, unbeugsame Freiheitskämpferin während des Prager Frühlings, Symbolfigur der Samtenen Revolution 1989, tschechische Sportlerin des Jahrtausends - eine Volksheldin.

Am 27. Oktober, auf den Tag genau vor 50 Jahren, endeten die Olympischen Spiele in Mexiko-Stadt. Das Jahr 1968 war ein bewegtes, weltweit. Auch im Gastgeberland: Zehn Tage vor Eröffnung der Sommerspiele endeten Studentenproteste für gesellschaftliche Reformen und gegen das autokratische Regime des damaligen Präsidenten Gustavo Diaz Ordaz mit dem Massaker von Tlatelolco, ein Blutbad in der Hauptstadt mit vermutlich 300 Toten. In aller Erinnerung ist der Kampf gegen Rassismus: Während ihrer Siegerehrung erhoben die US-amerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos ihre schwarz behandschuhte Faust.

Fast vergessen ist der Protest von Vera Caslavska. Die damals 26-Jährige gewann mit vier goldenen und zwei silbernen die meisten Medaillen aller Aktiven. Den Sieg im Bodenturnen musste sie sich mit Larissa Petrik aus der Sowjetunion teilen. Als die Hymne ihrer sportlichen Gegnerin lief, senkte Caslavska ihren Kopf und blickte nach unten. Ein stiller Protest. So anmutig, wie sie turnte. Gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings am 21. August durch Soldaten des Warschauer Pakts. »Das war das, was wir für unsere Nation tun konnten«, erzählte sie später.

Nur aufgrund ihrer weltweiten Popularität durfte sie nach Mexiko reisen. Dass sie so erfolgreich war, ist ein Wunder. Als Unterzeichnerin des im Juni 1968 veröffentlichten »Manifests der 2000 Worte« und Unterstützerin der Reformbewegung auch nach dem 21. August flüchtete sie aus Prag, fand Unterschlupf auf dem Land und trainierte im Wald. Das Moos ersetzte die Bodenmatte, Äste dienten als Holme des Stufenbarrens und Baumstämme als Schwebebalken. »Viele Menschen hofften auf gute Leistungen von mir, ich wollte sie nicht enttäuschen.« Ihre vier Goldmedaillen verschenkte sie öffentlichkeitswirksam an Reformpolitiker um Alexander Dubcek. Hausarrest, Ausreise- und Berufsverbot folgten. Ab 1979 durfte sie wieder als Trainerin arbeiten, davor musste sie putzen gehen.

Rehabilitiert wurde sie zehn Jahre später mit der politischen Wende. Caslavska wurde Beraterin von Präsident Vaclav Havel, Vorsitzende des Nationalen Olympischen Komitees und Mitglied im IOC.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -