Ein schöner Move

Das Plurale verteidigen.

Nicht auffallen, nett sein und bestätigen, dass alles normal ist - das wird von Juden in Deutschland erwartet. Sie sollen den Deutschen die Shoah höflich nachsehen und bestätigen, schreibt Max Czollek in seinem Essaybuch »Desintegriert euch!«, »dass die deutsche Gesellschaft ihre mörderische Vergangenheit erfolgreich verarbeitet hat«.

In diesem »Gedächtnistheater« (Y. Michal Bodemann) sind die Deutschen das Kollektiv und die Juden die Minderheit, die befragt wird, damit sich das Kollektiv besser fühlt. Dabei lande man »bei der immer gleichen Themenfolge Antisemitismus, Shoah und Israel«. Moslems seien einem »ähnlichen dominanten Erwartungsdruck« ausgesetzt, wenn sie sich »permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen«.

Aber sind das nicht alle deutsche Staatsbürger? Schon, meint Czollek, aber solange es keinen »Zentralrat der Deutschen« gebe, markiere er »Juden«, »Moslems« und »Deutsche«. Das »Deutschsein« steht ja immer stärker im Kurs. Seit dem Ende des Realsozialismus wird an einem »positiven Nationalismus« gearbeitet. Auf die Verfolgung der Mi- granten folgte der ach so fröhliche »Party-Nationalismus« bei der Fußball-WM 2006. Für Czollek ist das durch NSU, Pegida, AfD noch fragwürdiger geworden: »Ich glaube, ich spinne. Oder verzweifle.« Ihm ist klar, wohin es geht: »Wer sich ein Deutschland ohne Muslim*innen wünscht, der wünscht sich auch ein Deutschland ohne Juden und Jüdinnen.«

Von den nicht rechten Parteien will er eine andere Politik sehen: »Man könnte mal wieder Sozialpolitik machen, anstatt sich Heimatbegriffe anzueignen, vielleicht sogar mit sozialer Umverteilung und so.« Und was ist mit der sogenannten Vergangenheitsbewältigung? Für 2018 führt Czollek eine Studie an, in der 69 Prozent der Haushalte angaben, in ihren Familien habe es im Zweiten Weltkrieg keine Täter gegeben - »noch eine Generation, und in deutschen Familien wird es nie Nazis gegeben haben«, urteilt er sarkastisch.

Czollek ist Jahrgang 1987. Er hat dieses Buch als Lyriker, Berliner und Jude, »in wechselnder Reihenfolge«, geschieben. Er vermeidet den Begriff von der »jüdischen Gemeinschaft«, denn »Juden und Jüdinnen bilden keine Gemeinschaft - weder religiös noch ethnisch«. Es gebe viele Unterschiede - und auf die will er hinaus, wenn er »für mehr Unnormalität« plädiert, für »Desintegration«. Für ihn ist die Verweigerung die »Verteidigung der pluralen Gesellschaft«. Ein schöner Move.

Desintegration »kann Ironie sein, wenn keine Ironie erwartet wird. Und es kann Wut sein, wenn Versöhnung und gemeinsames Erinnern auf dem Programm stehen.« Er sympathisiert mit Quentin Tarantinos Film »Inglourious Basterds« und mit der Initiative Kanak Attak, die sich Ende der 90er Jahre der Frage nach der Herkunft verweigerte und vom »Ende der Dialogkultur« sprach. Weil man in diesen »Dialogen« tendenziell untergeht. Für Czollek besteht jeder Mensch »aus vielen Teilen, die sich immer wieder verschieben«. Ja, wir sind Individuen, schon mal davon gehört?

Max Czollek: Desintegriert euch! Hanser-Verlag, 208 S., geb., 18 €.

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