»Von Rassismus wurde nicht gesprochen«

Die »Initiative DU 26. August 1984« holt einen fast vergessenen Brandanschlag zurück ins Bewusstsein

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 9 Min.

Sie nennen sich »Initiative DU 26. August 1984«. DU steht für Duisburg. Wofür steht das Datum?

Ayşe Güleç: Am 26. August 1984 wurde ein Brandanschlag auf ein ausschließlich von »Gastarbeiter*innen« bewohntes Haus in einer wiederum hauptsächlich migrantisch geprägten Arbeiter*innensiedlung im Duisburger Stadtteil Wanheimerort verübt. Sieben Menschen aus einer Familie aus Adana starben bei dem Brand. Nur der Familienvater, Ramazan Satir, überlebte.

»Initiative DU 26. August 1984«

Ceren Türkmen arbeitet als Soziologin und ist seit Mitte der 90er Jahre in MSOs (Migrantische Selbstorganisationen) aktiv.

Alexander Bauer arbeitet als freischaffender Theaterregisseur im Kollektiv ongoing project. Er macht Performance, Soziokultur und Interdisziplinäre Kunst. Schwerpunkt: Kritik am Bestehenden.

Ayşe Güleç arbeitet als forschende Aktivistin und Kulturarbeiterin in den Bereichen Migration, Postkolonialismus, Antirassismus und Kunst sowie Kunstvermittlung. Sie war für die documenta 14, dOCUMENTA13 und documenta 12 tätig und ist zudem in der Initiative 6. April und im Tribunal NSU-Komplex auflösen aktiv.

Alle drei sind Teil der »Initiative DU 26. August 1984«.

Wurde der Fall aufgeklärt?

Alexander Bauer: In unseren Recherchen konnten wir ermitteln, dass 1993 eine Frau festgenommen wurde, die einen Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim verübt hatte. Dafür wurde sie angeklagt. Während des Prozesses stellte sich nur beiläufig durch ihr Geständnis heraus, dass sie auch die Täterin des Brandanschlags von 1984 war. Sie wurde per forensischem Gutachten als Pyromanin verurteilt und in einer Psychiatrie untergebracht. Von Rassismus wurde nicht gesprochen. Wir behaupten allerdings, dass hier von gesellschaftlichem Rassismus der 80er Jahre gesprochen werden muss.

Wie sind Sie auf den Fall gestoßen?

Ceren Türkmen: Durch Zufall, während einer Recherche zur Geschichte der Selbstorganisierung und Politik von Migrant*innen im Ruhrgebiet. Da gab es dann auf einmal unter den Quellen auch zwei, drei Berichte aus der Lokalpresse über den Brand. Das war vor drei Jahren, der NSU-Prozess lief schon, Oury Jalloh war schon zehn Jahre tot und es gab genug Wissen über Behördenversäumnisse und institutionellen Rassismus im Zusammenhang mit rassistischen Morden, die nie als solche dokumentiert wurden.

Als wir dann später neben den Berichten in der lokalen deutschsprachigen Presse auch zwei Berichte über den Brand in Publikationen von türkischen migrantischen Selbstorganisationen fanden, in denen in einem sehr viel kritischeren Ton darüber berichtet wurde, wurde immer klarer, dass da was nicht stimmt. Dann folgten eine Recherche in türkischsprachigen Pressearchiven und erste Interviews vor Ort. Schlimm ist, dass der Fall mit all seinen Ungereimtheiten und offenen Fragen dokumentiert, wie viel migrantisches Leben in Deutschland in den 80ern wert war und wie repressiv die Strukturen gegen sie aufgebaut waren.

Wie konnte dieser Fall in Vergessenheit geraten?

Türkmen: Obwohl der Fall 1984 für breite Bestürzung sorgte, konnte er über neun Jahre lang - bis 1993 - nicht aufgeklärt und kein Täter ermittelt werden. Ohne Täter und Aufklärung konnte auch keine hörbare gesellschaftliche Anklage formuliert werden. Über Rassismus konnte in diesem Zusammenhang und innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der 80er Jahre überhaupt nicht gesprochen werden, obwohl migrantische Selbstorganisationen und eine lokale Bürgerinitiative sofort auf »Fremdenfeindlicheit« - davon sprach man damals, wenn man Rassismus meinte - hingewiesen hatten. Diese Stimmen wurden seitens der Politik und Polizei, sofern wir das rekonstruieren können, nicht ernsthaft überprüft.

Güleç: Ich würde nicht sagen, dass der Brandanschlag in Wanheimerort in Duisburg vergessen wurde, sondern dass er immer im kollektiven Gedächtnis gespeichert war. Bei einem Vortrag vor wenigen Wochen in Duisburg habe ich auf den Brandanschlag und unsere Initiative aufmerksam gemacht. Es war sehr interessant, dass viele der Anwesenden aus migrantischen Communities eine - wenn auch vage - Erinnerung daran hatten.

Auch Ceren und ich sind im Ruhrgebiet aufgewachsen und zu der Zeit des Brandanschlages waren wir Kinder beziehungsweise Jugendliche. Wir erinnern uns nicht an den Anschlag, aber dafür sehr genau an das Klima, das damals wie ein Brandbeschleuniger für diesen Brandanschlag war.

Können Sie das näher beschreiben?

Güleç: In den 80ern wurden den damaligen Gastarbeiterfamilien beispielsweise sogenannte »Rückkehrhilfen« angeboten, um sie de facto loszuwerden. Diese Politik verdichtete sich in den 90ern im Asylkompromiss von 1993, der faktisch das Recht auf Asyl, das bis dahin als »Krone der Demokratie« galt, abschaffte.

Es gibt auch unter Linken die weitverbreitete Ansicht, dass die Explosion von Rassismus und die Pogrome der 90er Jahre maßgeblich durch die Wende und den nationalistischen »Deutschland einig Vaterland«-Taumel bewirkt wurden. Was da oft unter den Tisch fällt, sind die Kontinuitäten, sowohl von Rassismus in der DDR als auch in der Bundesrepublik …

Bauer: Um genau diese Isolation des Problems auf einige Ereignisse und eine gewisse Periode in der neueren deutschen Geschichte als Mythos zu entlarven, versucht unsere Initiative, auf den historischen Kontext hinzuweisen, in dem der Brandanschlag in Duisburg am 26. August 1984 stattgefunden hat.

Können Sie diesen historischen Kontext kurz umreißen?

Bauer: Nachdem in den 70er Jahren quasi Vollbeschäftigung herrschte, stieg die Arbeitslosigkeit Anfang der 80er sprunghaft an. Die Arbeiter*innenschaft sah sich plötzlich mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert und dieses Klima nutzten konservative Kräfte, um diese zu teilen und die »deutsche Arbeiterschaft« gegen die sogenannten »Gastarbeiter« aufzubringen. So schrieben Rechtsintellektuelle 1982 das »Heidelberger Manifest« und bereiteten die argumentative Grundlage für Bürgerinitiativen, welche die »Rückführung wegen Überschwemmung des Landes durch die Ausländerflut« Anfang der 80er Jahre einforderten. Seitdem die »Initiative DU 1984« auf den Brandanschlag aufmerksam macht, erreichen uns täglich Nachrichten, die auf das damals offen rassistische Klima in Duisburg hinweisen. So wurden wir auf die »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« aufmerksam, die in Duisburg sehr erfolgreich agierte und seit 1983 über 30 einschlägige Straftaten verübte, darunter Nötigung, Sachbeschädigung und auch Brandstiftung.

Türkmen: Es gab in den 80ern keinerlei Migrationspolitik, die die Realität anerkannte und sozial inklusiv förderte. Integration fand damals »von unten«, selbstorganisiert und jenseits von spärlichen staatlichen Förderprogrammen statt. Zweitens gab es noch keine hörbare und vor allem ernst genommene Rassismusdiskussion. Rassismus war reserviert für die Geschichte des Kolonialismus in Südafrika oder den Nationalsozialismus. Drittens vollzog sich zwischen den 80er und 90er Jahren eine Transformation migrantischer Selbstorganisierung und Kämpfe.

Inwiefern?

Türkmen: Wir haben es hier mit einem Generationenwechsel zu tun. Bis Mitte, Ende der 80er organisierte man sich innerhalb von internationalistisch-sozialistisch-revolutionär organisierten Strukturen. Das ändert sich mit der zweiten Generation, die sich unter dem Eindruck der Pogrome und der sich dann durchsetzenden Debatte um Rassismus mehr und mehr als Antirassist*innen begriff.

Wieviele Türkeistämmige haben eigentlich das vorhin erwähnte »Angebot« zur Rückkehr angenommen?

Türkmen: Das »Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft« wurde 1983 erlassen. Die ganze Rückkehrpolitik fand unter unglaublichem Zeitdruck statt: Wer bis zum September 1984 nicht ausgereist war, verlor jegliche finanziellen Ansprüche. Dementsprechend verließen laut einer Studie des Europäischen Migrationsnetzwerks aus dem Jahr 2009 in diesem Zeitraum 15 Prozent der türkischen Staatsbürger die Bundesrepublik, während es in den Vorjahren nur 5,5 Prozent waren. 1985 waren es wiederum nur vier Prozent.

Sehr wichtig finde ich in dem Zusammenhang, das linke Narrativ von der Rückkehr von Migrant*innen neu zu interpretieren. Wenn man sich Erfahrungsberichte und historische Quellen von Migrant*innen anschaut, wird deutlich, dass viele gegangen sind, weil sie keinen Bock mehr auf Rassismus, Überausbeutung, Entwürdigung und Diskriminierung hatten. Sie sind also dem Rassismus entflohen, haben ihren Rückkehrzeitpunkt in diesem Sinne selbstbestimmt auf den Zeitpunkt der Rückkehrkampagne festgelegt, um ihre Rentenansprüche und die Abfindung ausgezahlt zu bekommen, und ihre Entscheidung nicht passiv unter das Gesetz gelegt.

Gab es auch migrantische Selbstorganisierungsversuche, um diesem wachsenden Druck etwas entgegenzusetzen?

Güleç: Ja, selbstverständlich hat es migrantische Organisierungen und Kämpfe gegeben, die gegen Rassismus auf allen gesellschaftlichen Ebene gearbeitet haben. Unsere Quellen der migrantischen Selbstorganisationen bezeugen eindeutig, dass sie auch den Brandanschlag genau beobachtet haben.

Türkmen: Im Sommer 1984 fand etwa eine Konferenz gegen Ausländerfeindlichkeit in Düsseldorf statt, die die Föderation der Arbeitervereine FIDEF organisiert hatte. Und zwar in Kooperation mit weiteren Linken und progressiven Internationalist*innen von der VVN - den Verfolgten des Naziregimes -, den Grünen und anderen.

Ende der 70er fragte sogar die linksalternative Berliner Stadtzeitschrift Zitty: »Türken raus! Warum nicht?«. Fehlte von »deutschen« Linken Unterstützung für die Betroffenen, sich gegen Rassismus zu wehren?

Bauer: Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Aber es ging ab den 70ern ein Bruch durch die Linke. Es gab eine junge Linke, eine zunehmend antiautoritäre und stärker intersektional geprägte Gegenkultur. An die Stelle eines gemeinsames Kampfes traten Differenzlinien, Identitätspolitik gewann zunehmend an Bedeutung. Diese Entwicklung ist eine Münze mit zwei Seiten. Einerseits entstand so eine differenziertere Debatte über Rassismus, andererseits wurde es schwieriger, Allianzen zu schmieden und einzelne Gruppen in einem gemeinsamen Kampf zu unterstützen.

Güleç: Es muss betont werden, dass es zwar die Ebene der Selbstorganisierung gab, aber auch immer die Ebene der Solidarität. Im Duisburger Fall haben linke »deutsche« Bürger*innen sofort eine Bürgerinitiative gegründet und sofort öffentlich von Fremdenfeindlichkeit gesprochen.

Die Gewerkschaften starteten 1986 ihre »Gelbe Hand, mach meinen Kumpel nicht an«-Kampagne. Das war ein ganz anderer Zungenschlag als noch Anfang der 1970er Jahre, als man mit den Gastarbeitern eigentlich nichts zu tun haben wollte als Gewerkschaft, oder?

Türkmen: Als sich 1977 FIDEF in Düsseldorf gründete, nachdem in den späten 60er und in den 70er Jahren lokale, parteiunabhängige Arbeitervereine aktiv waren, gab es große Unruhe innerhalb des DGB. Man verurteilte die Organisierung türkischer Arbeitnehmer*innen aufs Äußerste und beteiligte sich trotz Einladung seitens der FIDEF nicht an der Konferenz. 1986 konnte das Thema Diskriminierung innerhalb der Gewerkschaften dann nicht mehr übersehen werden. Aufgrund des Rassismus, aber auch aufgrund der Politik von Migrant*innen, die selbstständig schon zuvor angefangen hatten, Rassismus zu thematisieren.

Um zurückzukommen auf die »Initiative DU 26. August 1984«: Was ist das Ziel Ihrer Arbeit?

Bauer: Den Brandanschlag aufzuklären, anzuklagen, kollektiv aus der Vergessenheit in Erinnerung zu bringen und gesellschaftlichen Rassismus als auch Rassismus als Motiv der Täterin zu überprüfen.

Güleç: Uns ist wichtig, dass der Brandanschlag als Teil der Geschichte Deutschlands nicht vergessen wird, Archivmaterialien und das Wissen dazu müssen gesichert werden, bevor die Taten verjährt sind und Aktenbestände vernichtet werden. Aber vor allem muss der gesellschaftliche Rassismus in Institutionen, Politik und Gesellschaft heute analysiert werden: Die rassistischen Angriffe der 90er, aber auch der 80er Jahre wurden doch erst ermöglicht durch politische Diskurse und Maßnahmen einer abschottenden Einwanderungspolitik.

Daraus müssen wir lernen, denn die Versuche, Migration zu verhindern durch »eine Regulierungspolitik«, erleben wir heute erneut.

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