- Politik
- Europaparteitag der Grünen
Alle haben sich lieb
Grüne wählen Ska Keller und Sven Giegold zu Spitzenkandidaten für die Europawahl
Igor Levit ist ganz in Schwarz gekleidet, wie es sich für einen Pianisten gehört. »Alle Menschen werden Brüder. Das ist ein Auftrag an uns alle«, sagt er. Dann wird das Licht gedimmt. Levit setzt sich an den Flügel und spielt Beethovens Ode an die Freude. Die Melodie ist auch die offizielle Hymne des Europarats. Sein Publikum sind an diesem Abend die Delegierten des Leipziger Bundesparteitags der Grünen. Sie lauschen andächtig und applaudieren dann lange für Levit.
Die neue Führung der Grünen um die Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck hat ein feines Gespür dafür, welche Gäste bei Bundesparteitagen gut ankommen. Vorbei sind die Zeiten, in denen der frühere Vorsitzende Cem Özdemir eine Gastrede von Daimlerchef Dieter Zetsche durchsetzte und dadurch den Zorn vieler Grüner auf sich zog, weil sie Zetsche in Umweltfragen nicht als Partner, sondern als Gegner sahen. Mit einem Künstler wie Levit kann man hingegen nichts falsch machen. Er stammt aus der Sowjetunion, ist jüdischer Abstammung und ein Befürworter der Europäischen Union.
Sein Klavierspiel ist am Freitag der Auftakt für eine Veranstaltung, bei der die Grünen sich auf die Europawahlen im Mai kommenden Jahres vorbereiten. Auf Platz eins der Wahlliste wird am Samstagvormittag die Fraktionschefin im Europaparlament, Ska Keller, gewählt. Die junge Brandenburgerin verspricht in ihrer emotionalen Bewerbungsrede, sie werde mit den Grünen alles dafür tun, dass Europa nicht in die Hände rechter Politiker fällt. In diesem Zusammenhang nennt sie unter anderem die Namen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban und des italienischen Innenministers Matteo Salvini. Die Grünen sehen ihre Politik als Gegenmodell zu den aufstrebenden Rechten in Europa. So versprechen sie in ihrem Wahlprogramm die Schaffung legaler Fluchtwege nach Europa sowie einen Verteilungsschlüssel für Schutzsuchende in der EU.
Als das Tagungspräsidium die Fragen von Delegierten an Keller vorliest, wird es für sie aber noch einmal brenzlig. Denn jemand will wissen, wie sie zur möglichen Gründung einer »europäischen Verteidigungsarmee« mit der Atommacht Frankreich stehe. Diese hatte jüngst der französische Präsident Emmanuel Macron ins Spiel gebracht. Die Grünen sehen ihn in der Europapolitik als Partner und sprechen lieber vom »Friedensprojekt Europa«, anstatt die militärischen Aspekte der europäischen Einigung zu erwähnen. Keller führt das Argument an, dass in der EU zu viel Geld für Rüstung und Militär ausgegeben werde. Man könne durch Zusammenlegungen sparen. Auf die Ziele einer möglichen Europäischen Armee geht sie nicht weiter ein. Letztlich wird sie von rund 88 Prozent der Delegierten gewählt.
Der zweite Listenplatz ist für den Europapolitiker Sven Giegold reserviert. Er lobt in seiner Rede die Kompromisse, die auf europäischer Ebene gemacht werden. »Das Pariser Klimaschutzabkommen ist ein Erfolg europäischer Diplomatie«, ruft Giegold in die Leipziger Messehalle. Er will ein Europa »der sozialen Sicherheiten«. Dazu gehörten auch verbindliche Regelungen für Mindestlöhne in der EU.
Großer Jubel bricht aus, als das Abstimmungsergebnis für Giegold bekannt gegeben wird. Er bekommt fast 98 Prozent der Stimmen. Giegold, der mit der strahlenden Keller auf dem Podium steht, schwenkt eine Europaflagge. Früher galt noch das ungeschriebene Gesetz, dass ein Realo und ein eher linker Politiker auf den beiden ersten Plätzen kandidieren. Giegold und Keller gehören aber beide letzterem Flügel an. Das wurde möglich, weil die Partei nun andererseits von den zwei Realos Baerbock und Habeck geführt wird. Zudem hat es der Realoflügel Giegold hoch angerechnet, dass er sich im Januar gegen eine Kandidatur für den Bundesvorsitz entschieden hatte und stattdessen Habeck unterstützte.
Es passt zu den Bemühungen der zuletzt bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen erfolgreichen Grünen um parteiinterne Harmonie, dass Keller und Giegold keine Gegenkandidaten haben. Nicht einmal Winfried Kretschmann, der lange für viele in der Partei als Reizfigur galt, sorgt noch für Empörung. Der baden-württembergische Ministerpräsident hat seine Teilnahme in Leipzig wegen anderer Termine abgesagt. Trotzdem sorgt er auf dem Parteitag für Gesprächsstoff. In Zeitungsinterviews nennt Kretschmann Flüchtlinge, die in Gruppen Straftaten begehen, »junge Männerhorden«. Diese will er aus den Großstädten fernhalten und »in die Pampa« schicken. Mitglieder aus Partei- und Fraktionsspitze wie Bundesgeschäftsführer Michael Kellner und Fraktionschef Anton Hofreiter kritisieren zwar die Wortwahl Kretschmanns, geben ihm aber in der Sache recht.
Eine Nebenrolle spielt auf dem Parteitag hingegen die frühere Fraktionschefin im EU-Parlament Rebecca Harms. Sie will wegen diverser inhaltlicher Differenzen mit der Fraktion nicht noch einmal kandidieren. Harms sieht etwa das transatlantische Freihandelsabkommen CETA weniger kritisch als andere Abgeordnete. Ihr zentrales Thema ist der Konflikt in der Ukraine, in dem sie einseitig Position für die Regierung in Kiew und gegen die sogenannten Volksrepubliken im Osten des Landes bezogen hat. Diesen Themenbereich will die frühere Bundestagsabgeordnete Viola von Cramon im Europaparlament übernehmen. Sie kommt wie Harms aus dem niedersächsischen Landesverband, hat ähnliche Ansichten wie sie und lobt ihre Parteikollegin in ihrer Bewerbungsrede ausdrücklich für ihre Arbeit. Die Delegierten kann von Cramon aber nicht von sich überzeugen. Sie kandidiert gegen drei weitere Bewerberinnen für den aussichtsreichen Listenplatz elf und erhält im ersten Wahlgang nur 19 Prozent. Für die Stichwahl tritt sie nicht mehr an.
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