Inklusiv bis an die Spitze

Die Thuringia Bulls sind Europas Beste im Rollstuhlbasketball

Matt Scott hat nicht auf die Landkarte geschaut. Er hat auch nicht bei Wikipedia nachgelesen, was Elxleben so zu bieten hat. Es hätte ihn womöglich nur abgeschreckt, wenn die einzig erwähnten Sehenswürdigkeiten die Dorfkirche und vier ehemalige Sparkalköfen sind.

Etwa 2200 Menschen leben in der Gemeinde, von der man mit dem Auto in 15 Minuten bis ins Zentrum von Thüringens Hauptstadt Erfurt braucht. Das alles interessierte den US-Amerikaner nicht, er wollte nach Elxleben, weil hier Aliaksandr Halouski spielt, ein deutscher Rollstuhlbasketballer, und der vielleicht Beste auf seiner Position. Scott will nur mit den Besten spielen, schließlich ist er Paralympicssieger. »Elxleben hat sich einen Namen gemacht in den letzten Jahren. Als Basketballer war mir das Team also bekannt. Vom Ort wusste ich nichts. Ich hatte keine Ahnung, wie klein Elxleben ist. Aber ich bin immer wieder beeindruckt davon, was man hier auf die Beine gestellt hat. Es ist ein ruhiger Ort. Aber wenn wir an den Wochenenden spielen, wird es richtig laut.«

Wir, das sind die Thuringia Bulls. Und 2018 haben sie richtig was auf die Beine gestellt: Sie gewannen erstmals die Champions League. Dabei gibt es die Bulls erst seit 2011, als sie aus dem Reha-Sport-Bildung e.V. hervorgingen, der heute noch Mutterverein ist. 2008 hatte Manager Lutz Leßmann dort ganz klein angefangen: »Wir wollten Rollstuhlsportlern eine Heimat bieten. Ich erinnere mich an das erste Spiel in Donauwörth. Das haben wir mit 50 Punkten verloren. Ich dachte aber nur: Hauptsache alle haben sich bewegt!«

Rollstuhlbasketball ist eine der inklusivsten Sportarten überhaupt. Mobil eingeschränkte Menschen und Fußgänger spielen zusammen. Je höher der Behinderungsgrad, desto wertvoller wird ein Spieler im Bonussystem der Aufstellungen. Ebenso werden Frauen extra gefördert. So spielt bei den Bulls auch Jitske Visser, die Holland zuletzt zum Weltmeistertitel führte.

Mit jedem Jahr stiegen in Elxleben Qualität und Anspruch. 2011 kam der Aufstieg in die 1. Bundesliga. Eine Brauerei half als Sponsor, Breitensport in Leistungssport umzuwandeln. »Zehn Spieler brauchen zehn Rollstühle, die in Kleinbussen transportiert werden müssen. Bei Auswärtsspielen kosten die Reisen mindestens 1000 Euro. Bei Heimspielen bezahlt man für Schiedsrichter 1000 Euro. Das summiert sich auf bis zu 30 000 Euro pro Saison«, erklärt Leßmann. »Ist man erfolgreich, muss man in der Champions League vielleicht noch zu drei Auswärtsrunden fliegen. Das sind noch mal 45 000 Euro. Viele können sich das nicht leisten.« Die Bulls schon, denn mit dem Erfolg kamen Berichte in lokalen Zeitungen und im MDR. Das wiederum öffnete neue Türen bei der Suche nach neuen Sponsoren – und neuen Spielern.

»Rollstuhlbasketballern geht es darum zu gewinnen. Wir haben mit den Jahren immer mehr Aufmerksamkeit erregt. Und irgendwann kamen die großen Namen zu uns«, erinnert sich Trainer Michael Engel. »Jack Williams, ein Paralympicssieger, hat uns angeschrieben, ob er bei uns spielen kann. Genauso Andre Bieneck, hundertfacher Nationalspieler. Matt Scott habe ich eine Mail geschrieben. Da gibt es keine Agenten. Es geht nicht um Geld, sondern um ein Umfeld, in dem ich erfolgreich sein kann.« Drei Spieler, die 2011 mit aufgestiegen sind, spielen übrigens noch heute im Team.

Scott war schon 2004 bei den Paralympics dabei, Nike drehte Werbespots mit ihm, er ging nach Europa, spielte in der Türkei und Italien, seit 2017 nun in Elxleben. »Ich will jeden Tag trainieren und mit den Besten zusammenspielen«, begründet er den Schritt. Dass die Besten wirklich in einem kleinen Thüringer Ort spielen, bestätigte sich im Mai 2018, als sich die Bulls zum Champions-League-Sieger krönten.

Manager Leßmann schaut sich heute noch gern das Youtube-Video vom Endspiel an. »Es war phänomenal, dass wir am Ende der Saison unseren besten Basketball gespielt haben«, sagt er und betont wie auch Trainer und Spieler, dass dieses Team keine simple Zweckgemeinschaft war, um Titel zu gewinnen. »Diese Mannschaft lebt ein familiäres Miteinander. So etwas habe ich noch nie erlebt – und das bei Weltklasseathleten! Ihre lachenden Gesichter direkt nach dem Finale habe ich noch immer in mir«, sagt Michael Engel. Diese Gruppe aus Litauern, Iranern, Niederländern, Amerikanern, Letten, Finnen, Deutschen geht zusammen essen, redet über verschiedene Kulturen, lernt voneinander.

Viele von ihnen arbeiten sogar gemeinsam im Mutterverein, der in ganz Deutschland mehr als 150 Außenstellen hat. Profi ist hier keiner. Matt Scott engagiert sich bei »Rollstuhlsport macht Schule«. 20 mal im Jahr fährt er an Schulen und zeigt einen Tag lang Hunderten Jugendlichen, wie Rollstuhlfahrer leben. Alltagssituationen werden nachgestellt: Treppen, hohe Einkaufsregale. Der Perspektivwechsel ändert das Bewusstsein. »Das ist eine der angenehmsten Seiten meines Lebens in Deutschland. Ich zeige Kindern, was paralympischer Sport ist, und rede mit ihnen über Inklusion.« Dafür zahlt die Unfallkasse Thüringen Geld an den Verein, der Scott somit ein Gehalt für seine Arbeit bieten kann. »In anderen Klubs agieren die Spieler wie Profis. Basketball ist dann ihr Job, und sie machen nebenher nicht mehr viel«, berichtet Scott. »Elxleben geht einen anderen Weg, der Klub tut etwas für ein besseres Bewusstsein der Menschen im Umgang mit Behinderungen und ist trotzdem noch sportlich sehr erfolgreich.«

Andere Spieler kümmern sich um den Nachwuchs. Die Ursprungsidee, Rollstuhlfahrern einfach das Sporttreiben zu ermöglichen, musste nie aufgegeben werden. »Die Kinder werden jetzt von Nationalspielern trainiert, und Paralympicssieger sitzen beim Punktspiel am Anschreibertisch. Das ist für die Kinder das Allergrößte«, freut sich Lutz Leßmann.
Dem Manager ist die Ebene unterhalb der Leistungssportler immer wichtig geblieben. Er weiß, dass große Mannschaften nicht ewig oben bleiben. Also muss die Basis gestärkt werden, doch das ist nicht einfach. Bis zu 8000 Euro kostet ein guter Sportrollstuhl. Um 30 Kindern, die noch wachsen, immer das passende Gerät zu bieten, braucht es viel Geld, weshalb Leßmann eine Fundraising-Kampagne fürs nächste Jahr ankündigt. Ein bisschen mehr Aufmerksamkeit durch einen weiteren Pokal kann da nicht schaden.

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