Ende noch vor dem Weltuntergang

WDR kündigt an die Fernsehserie Lindenstraße zu März 2020 einzustellen.

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt Erinnerungen, die verschwinden schon aus dem Gedächtnis, bevor sie vergangen sind, und an manches erinnert man sich erst wieder, wenn es verschwindet. An der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main stand zu Beginn der 1990er Jahre mit Edding an die Wand eines Aufzugs im Uni-Turm (auch er längst vergangen) geschrieben: »Wir fordern neue Beine für Doktor Dressler.« Das war ein sehr schöner Service, den der anonyme Verfasser da seinen Kommilitonen darbot.

So waren alle darüber im Bilde, dass dem von Ludwig Haas verkörperten Arzt in der ARD-Serie »Lindenstraße« offenbar etwas Schlimmes widerfahren sein musste. Aus Unterhaltungen in der Mensa konnte man dann erfahren, dass der liebe Herr Dressler nach einem Unfall seit Folge 169 im Rollstuhl sitzt – und mit diesem durch die Welt rollt.

Das Schöne daran: Man musste die »Lindenstraße«, die seit 1985 jeden Sonntag im Fernsehen gezeigt wird, gar nicht mehr anschauen, um im Bilde zu sein; irgendeinen gab es immer im Bekanntenkreis, der tapfer durchhielt und Sonntag für Sonntag einschaltete. Es reichte auch, sich alle Jubeljahre eine der knapp halbstündigen Folgen anzusehen, um über die wesentlichen Handlungsstränge informiert zu sein – zumindest über jene, die von Relevanz waren, damit man über das Leben von Mutter Beimer, das ihres Ex-Mannes Hans, jenes von Tanja Schildknecht oder des Blockwarts Onkel Franz und seiner Schwester im Geiste, Else Kling, Bescheid wusste.

Die »Lindenstraße« war eigentlich schon bei ihrem Start ein Artefakt aus einer vergangenen Zeit des Fernsehens. In den USA, dem Mutterland des Kommerz-TV, liefen Mitte der 1980er Jahre bereits Soap-Operas in täglicher Dauerschleife und nicht nur einmal pro Woche. Die von Hans W. Geißendörfer für den öffentlich-rechtlichen Fernsehsender WDR produzierte »Lindenstraße« wollte aber stets mehr sein als nur bloße Unterhaltung, sie nahm auch für sich in Anspruch, Volksaufklärung und Beitrag zur gesellschaftlichen Emanzipation zu sein.

In der Serie gab es den ersten massenpublikumstauglichen Kuss zwischen zwei Schwulen im deutschen Fernsehen, es gab Neonazis, Lesben, Drogenabhängige, eine Beziehung zwischen einem Tennislehrer und einer Minderjährigen, Scheidungen, Gewalt gegen Ausländer, Sterbehilfe, Aidstote – und das alles in einer einzigen kleinen Straße in München, von der 150 Meter auf dem WDR-Studiogelände in Köln-Bocklemünd aufgebaut waren. Als die Mauer fiel, zogen recht bald die ersten Ossis in die Lindenstraße. Die Serienfiguren mussten mehr erleben und erleiden als in eine ganze menschliche Existenz passt.

Die »Lindenstraße« war ein permanenter Tabubruch, der niemals folgenlos blieb – denn am nächsten Sonntag ging es ja weiter, wurde die Geschichte, die eine Woche zuvor, von dramatischer Musik unterlegt, mit einem Cliffhanger endete, ja fortgesetzt. Ständig waren die Verantwortlichen der Serie auf der Suche nach gesellschaftlich relevanten Themen, die in die diversen Handlungsstränge aufgenommen werden konnten.

In den Anfangszeiten der Serie war dies noch ungewöhnlich im deutschen Unterhaltungsfernsehen. Doch schon in den 1990er Jahren geriet die Serie in Konkurrenz zu Formaten der privaten Sender. Zudem hatte sich das deutsche Fernsehen wie das US-amerikanische Vorbild zur 24-Stunden-Dauerberieselungsanstalt mit einer Vielzahl von Kanälen entwickelt. Der Marktanteil der »Lindenstraße« ging zurück.

Schalteten Ende der 1980er Jahre jeden Sonntag noch weit über zehn Millionen Menschen ein, manchmal gar mehr als 13 Millionen Zuschauer, so sank die Reichweite ab 1990 unter die Zehn-Millionen-Grenze. Der WDR hielt an der Serie dennoch unverdrossen fest, und die Entwicklung ab Mitte der 1990er Jahre schien den Sendeverantwortlichen Recht zu geben; die Zuschauerzahlen stabilisierten sich zwischen 1995 und 1998 bei durchschnittlich sieben Millionen.

Ab den 2000er Jahren sanken die Einschaltquoten allerdings wieder. Im Schnitt hatte die »Lindenstraße« in den vergangenen Monaten nur noch knapp über zwei Millionen Zuschauer. Selbst der Ritterschlag, die Verleihung des Grimme-Preises an die Serie im Jahr 2001, konnte den Absturz nicht aufhalten. Ein kurzes Aufflackern gab es, als der Schauspieler Joachim Luger, der von Beginn an die Figur des Hans Beimer verkörperte, seinen Abschied nahm; die Anfang September dieses Jahres ausgestrahlte letzte Folge mit Luger wollten immerhin 2,84 Millionen Menschen sehen.

Der WDR musste reagieren, denn Einschaltquoten sind das Maß der Dinge – selbst in dem durch Rundfunkgebühren finanzierten öffentlich-rechtlichen Fernsehen. ARD-Programmdirektor Volker Herres sagte am Freitag, man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht: »Doch wir müssen nüchtern und mit Bedauern feststellen: Das Zuschauerinteresse und unsere unvermeidbaren Sparzwänge sind nicht vereinbar mit den Produktionskosten für eine solch hochwertige Serie.« Im März 2020 soll die Serie, von der bislang rund 1.700 Folgen ausgestrahlt wurden, eingestellt werden.

Die konservativen Kulturkritiker hatten dies übrigens schon vor zwei Jahrzehnten vergeblich gehofft. »Eine Volkshochschule feiert Jubiläum. Zum 500. Mal ‚Lindenstraße‘. Kein Ende vor dem Weltuntergang«, mit diesen Worten bedauerte bereits 1995 die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« die Langlebigkeit der Serie. Zehn Jahre zuvor prophezeite der Fachdienst »epd/Kirche und Rundfunk« schon nach der ersten Folge der »Lindenstraße« ein baldiges Ende, denn die Serie sei »dürftig und schlecht gemacht«. Daran sollte man sich erinnern, bevor die Serie der Vergangenheit angehört.

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