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Endspiel für Europa
Die globalen Spannungen wachsen - ausgerechnet jetzt kommt der Abschwung.
In Europa zerfallen die politischen Parteiensysteme, die Ungleichheit wächst, rechte Parteien sind im Aufschwung und in einigen Ländern schon an der Regierung. Die EU verliert Großbritannien und riskiert im Defizit-Streit mit Italien eine Existenzkrise. Die US-Regierung überzieht die Welt mit einem Handelskrieg - und nun geschieht etwas sehr Ungünstiges: das Wirtschaftswachstum lässt nach. Der beginnende Abschwung wird alle politischen Gegensätze verschärfen und konfrontiert die EU mit ihrem Grundwiderspruch. »Das Projekt Euro scheint in die entscheidende Phase einzutreten«, so die Ökonomen der DZ Bank. »Ausgang offen.«
Im dritten Quartal halbierte sich die Wachstumsrate der Wirtschaft in der Eurozone. In Italien herrschte Stagnation, in Deutschland schrumpfte die Produktion sogar. Experten beeilten sich zwar, diese Schrumpfung auf Sondereffekte der Autoindustrie zurückzuführen. Dennoch ist klar: Europas Wirtschaft ist in einen Sinkflug übergegangen. Und nicht nur sie.
Noch im April feierte der Internationale Währungsfonds den ersten globalen synchronen Aufschwung seit Jahren. Nun, nur wenige Monate später, steht ein globaler Abschwung an. »Wo wir auch hinschauen, sehen wir abnehmende Wachstumsraten«, klagen die Ökonomen der Deka-Bank. Eine echte Krise wird derzeit zwar nicht erwartet. Doch macht die abflauende Konjunktur die Konkurrenz um Marktanteile härter. »Weltweit nimmt die Nachfrage insbesondere nach Industriegütern kaum zu, das Angebot aber bleibt groß«, hält die französische Bank Natixis fest. Diese latente Überproduktion führe zu einer wachsenden Konkurrenz um Anteile am »Industrie-Kuchen« oder »in anderen Worten: zu nicht-kooperativer Politik«.
Die Fronten verlaufen derzeit vor allem in der Handelspolitik. Die US-Regierung hat angedroht, Anfang nächsten Jahres sämtliche chinesischen Importe mit Zöllen zu belegen, sollte Peking keine Zugeständnisse machen - wobei Washington offen lässt, wie diese Zugeständnisse aussehen könnten.
Den Streit ihrer beiden wichtigsten Handelspartner bekommt die EU zu spüren. Die Zuwächse im China-Geschäft sinken. Gleichzeitig erhöhen die USA den direkten Druck auf Europa: Diese Woche hat das Handelsministerium dem Weißen Haus eine Empfehlung in der Frage übermittelt, ob aus Gründen der nationalen Sicherheit Sonderzölle auf Autoimporte eingeführt werden sollen. Die EU drohte sofort Gegenmaßnahmen an. »Aus den Störfeuern könnte sich ein Flächenbrand entwickeln«, warnt Jochen Möbert von der Deutschen Bank Research.
Das Welthandelssystem löst sich zunehmend auf. Zwar pochen die Regierungen in Europa und China auf den Erhalt eines »regelbasierten Systems«. Doch haben die USA den Streit darüber eröffnet, welche Regeln gelten sollen - und wer folglich vom globalen Geschäft profitiert. Geführt wird dieser Streit zwar mit juristischen Argumenten. Entscheidend sind aber Macht und Stärke der Verhandlungspartner.
Auf Augenhöhe, das ist inzwischen klar, können die Europäer nur verhandeln, wenn sie vereint auftreten. Dies gilt nicht mehr nur für Handelsfragen, sondern für das gesamte Feld der Geopolitik. »Für Europa stellt sich die Frage, wie sehr es zum Objekt des Ringens der Großmächte wird«, schreibt Peter Rudolf von der Stiftung SWP.
Doch der Zusammenhalt der EU wird stetig untergraben. Großbritannien verabschiedet sich. In Osteuropa wachsen Nationalismus und EU-Feindschaft. Zentrales Kampffeld in Südeuropa sind die Staatsfinanzen, also die Höhe der Neuverschuldung, die die EU erlaubt. Hier wird sich der Streit durch die abflauende Konjunktur zuspitzen. Denn schon bevor erste Signale des Abschwungs Europa erreichten, deutete die Neuverschuldung nach oben. Erstmals seit 2009 steigen 2019 die Defizite in der Eurozone wieder. In Frankreich plant der angeschlagene Präsident Emmanuel Macron ein Defizit von fast drei Prozent der Wirtschaftsleistung. Im politisch gespaltenen Spanien wird der von der EU verordnete Sparkurs langsam verlassen. Die abflauende Konjunktur wird dazu führen, dass das Wachstum in Europas schwächer und die Defizite noch höher ausfallen, als ohnehin schon geplant.
Die italienische Regierung stellt der EU nun die Machtfrage. Den Haushaltsplan, den Rom für 2019 bis 2021 vorgelegt hat, lehnt man in Brüssel ab. Italien hätte daher diese Woche einen korrigierten Entwurf vorlegen müssen - und hat dies verweigert. »Unser Haushalt ist genau das, was das Land braucht«, sagte Ministerpräsident Luigi di Maio. Damit ist das gefährdet, was die EU im Kern ausmacht: die Gültigkeit ihrer Regeln. Italien »rüttelt an den Grundfesten der Währungsunion«, stellt die DZ Bank fest.
Das bringt die EU und ihre Hauptmacht Deutschland in die Klemme. Am kommenden Mittwoch muss Brüssel auf Italiens Weigerung reagieren. Fährt man eine harte Linie, könnte dies in Italien und Frankreich rechte Anti-EU-Kräfte stärken. Nachgiebigkeit wiederum leistet dem Rechtspopulismus in Kerneuropa Vorschub, der die Südeuropäer zu harter Sparsamkeit zwingen will. Eine Sonderbehandlung Italiens »würde das Ende des Euro bedeuten«, warnte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
EU und Eurozone werden damit zurückgeworfen auf ihre Ursprünge und ihren Grundwiderspruch. Gestartet war das Staatenbündnis als Projekt gegen die Dominanz der USA. 1947 schrieb der »Vater Europas«, der Franzose Jean Monnet: »Die Macht der westeuropäischen Staaten zu stärken, und um der Gefahr begegnen zu können, die uns von der amerikanischen Supermacht droht, dafür muss eine wirkliche Gegenmacht geschaffen werden, die nur die endgültige Vereinigung Europas möglich machen kann.« Wie ein Echo dieser Sätze klangen diese Woche die Worte Macrons und Merkels, als sie eine »wirkliche gemeinsame europäische Armee« forderten, um die Autonomie der EU zu stärken - was eine scharfe Replik von US-Präsident Donald Trump herausforderte.
Trump, so Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire, sei »der beste Anreiz für ein stärkeres Europa«. Stärker bedeutet: einig. Doch die Einigkeit scheitert bislang an dem Widerspruch, dass die EU ein Bündnis zugleich konkurrierender Staaten ist. Dieses Bündnis hat sich feste Regeln gegeben, denen seine Mitglieder folgen müssen. Das ursprüngliche Versprechen der EU war: Durch das Befolgen dieser Regeln werden die europäischen Staaten Teil eines mächtigeren Ganzen, das es mit den anderen Weltmächten aufnehmen kann. Eine Aufgabe von nationaler Souveränität sollte so zu größerer, weltpolitischer Souveränität führen.
In vielen EU-Staaten wächst nun der Zweifel, ob diese Rechnung für sie aufgeht. Denn wirtschaftlicher Erfolg und damit Macht in Europa verteilen sich ungleich: Reichen Gläubigerstaaten stehen relativ erfolglose Schuldnerstaaten gegenüber, die sich beugen müssen. Bei den Gläubigern wächst gleichzeitig der Unwille, für die Schuldner zu haften. Angesichts dieser Widersprüche kommt derzeit kein Projekt zur Vertiefung von EU und Eurozone voran - weder die Banken- oder Kapitalmarktunion, noch größere EU-Budgets oder gemeinsame Euro-Anleihen. »Es gibt kein Gefühl der Dringlichkeit«, klagt Juncker, »aber es ist dringend.«
Im Dezember steht ein weiteres Gipfeltreffen zur Reform der Eurozone an. Die Aussichten auf eine Einigung sind allerdings gering. »Bevor sich die Eurozone zu mutigen Schritten durchringen kann«, so Carsten Brzeski von der Bank ING-Diba, »braucht sie wohl eine neue existenzielle Krise.«
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