Echte Wildnis nach der Apokalypse
Zwei Schauen in der Schirn Kunsthalle Frankfurt offenbaren, wie konstruiert unser Bild von der Natur ist
Afrika brennt. Lodernde Flammen und dunkelgrauer Rauch am Savannenhorizont bringen sogar die Dickhäuter aus der Ruhe. Die Rüssel vorgestreckt, stürmt die Elefantenhorde in trampelnder Flucht aus dem Bild heraus, geradewegs auf den Betrachter zu. Mit seiner spannend inszenierten, zugleich aber authentisch wirkenden Großwildmalerei brachte Wilhelm Kuhnert um 1900 die Steppen, Wüsten und Urwälder der Kolonialgebiete in die wilhelminischen Wohnzimmer. Längst ist der Name des Berliner Künstlers nur noch Spezialisten geläufig, doch seine Werke, deren lithografische Reproduktionen als Unterrichtsmaterial an Schulen dienten, prägen bis heute unser Bild von Afrika, ja von der exotischen Wildnis überhaupt.
Wie die Zivilisation auf ihren Gegenpart blickt, fragt die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main mit zwei thematisch aufeinander bezogenen Ausstellungen. Die erste erinnert mit über hundert Gemälden und Grafiken an Kuhnerts Schaffen, die zweite heißt schlicht »Wildnis« und fächert die unterschiedlichen Rollen auf, die dieser Begriff in der Kunst seit der Romantik spielt. Wo die Retrospektive des Afrika-Malers relativ geradlinig geführt und kulinarisch genießbar ist, gerät die parallele Themenschau etwas sperrig, weil sie sich in zu vielen Einzelaspekten verliert.
So überzeugt die Kuhnert-Schau mehr, selbst wenn der Titel »König der Tiere« zunächst nach Disney-Film klingt. Doch ins Kinderprogramm gehört die Wildlife-Kunst bestimmt nicht. Teil des kuratorischen Konzepts ist in Frankfurt die irritierende Präsentationsarchitektur aus schräg gestellten Sperrholz-Lamellen, zwischen denen viel Luft bleibt. Symbolisch öffnet sich die Ausstellung damit für die Hintergründe der scheinbar harmlosen Sujets.
Besonders ein Bild bricht jäh aus der Safari-Idylle aus. Die Skizze eines toten Afrikaners, den ein hochrangiger deutscher Verwaltungsbeamter aus persönlicher Eifersucht hinrichten ließ. Kuhnerts Oeuvre ist eng mit dem kolonialen Ausbeutungssystem der Kaiserzeit verbunden. Nicht nur, weil der Maler die von den deutschen Besatzern geschaffene Infrastruktur der Verkehrswege und Handelsstationen für sich nutzte. Bis zu siebzig einheimische Träger und Fährtenleser begleiteten ihn auf seinen Expeditionen. Bei einer Revolte im heutigen Tansania griff er 1905/06 sogar selbst zur Waffe, um die deutschen Kolonialtruppen zu unterstützen. Aber auch künstlerisch gehört Kuhnert eher auf die reaktionäre Seite. Innovation gelang ihm nicht im Stil, nur in den Motiven. Während die Kollegen Löwen und Giraffen im Zoo studierten, beobachtete er sie in freier Wildbahn. Vor allem in Ostafrika, wohin er 1891 erstmals aufbrach. Als versierter Handwerker übertrug Kuhnert das kunsthistorisch Bewährte auf den neuen Zweck: Großwild in seinem natürlichen Lebensraum zu zeigen. Besonders die Landschaftskulissen verraten, dass er in die Schule der realistischen Freilichtmalerei gegangen war. Ein Camille Corot oder ein Gustave Courbet hätten die Sonnenglut über der Savanne und die Abendstimmung in den Palmenwäldern atmosphärisch kaum sicherer einfangen können.
Auch die animalischen Hauptakteure hat Kuhnert für Europas bürgerliche Augen visuell aufbereitet. Obwohl Löwen eigentlich im Rudel leben, malt er sie entweder als heroische Einzelgänger oder als stolzes Paar. Ebenso wenig fehlen die damals schon beliebten Tierbabys. Mild und fürsorglich wie eine Menschenmutter begegnet eine von Kuhnerts Löwinnen ihren Jungen. Eine Kleinfamilie mit Klauen und Pranken. Diese versteckte Tendenz zum Anthropomorphen setzte Maßstäbe, die von Tierfilmern des 20. Jahrhunderts wie Heinz Sielmann oder Bernhard Grzimek wieder aufgegriffen werden sollten. Deutlicher noch schält sich in der zweiten Ausstellung heraus, dass die Kunst sich ihre Wildnis nach eigenen Gesetzen formt. Dafür spricht bereits der Raubtierdschungel von Henri Rousseau im Eingangssaal. Wie kleinteilige Ornamente verteilt der Großmeister der Naiven Malerei die Blätter der Tropenpflanzen auf der Fläche. Die verzauberten Urwälder des Surrealisten Max Ernst wiederum sind artifizielle Zeichenräume des Unterbewusstseins: ein innerer Dschungel.
Was überhaupt wild sein soll, erweist sich im Laufe des Parcours als recht dehnbare Vorstellung. Kleinster gemeinsamer Nenner ist stets die Negation. So wüten die Art-Brut-Monster eines Asger Jorn oder die ausgeflippten Discotänzer von Helmut Middendorf (den die Kunstszene als Vertreter der »neuen Wilden« verschlagwortet hat) betriebsimmanent gegen akademisch domestizierte Malerei. Dass auch im urbanen Raum das Fressen und Gefressenwerden des Dschungels gilt, legt der südafrikanische Fotograf Pieter Hugo nahe. Seine sozialkritischen Aufnahmen porträtieren junge Männer, die mit Hyänen an der Kette durch die nigerianische Millionenmetropole Lagos ziehen.
Denn unberührte, dem Menschen versperrte Naturräume finden sich auf keiner Landkarte mehr. Darren Almonds Bilder von der Gottverlassenheit Patagoniens mögen noch einmal jene bedrohlich-erhabenen Landschaften wachrufen, mit denen das 18. Jahrhundert dem Entdeckerdrang der Aufklärung eine mahnende Grenze setzen wollte. Im 21. Jahrhundert dagegen sind nicht mehr die zivilisationsfernen Orte bedrohlich, sondern die Konsequenzen der Zivilisation selbst. Jacob Kirkegaards Nebelkammer jagt dem Eintretenden mit der Klangkulisse schmelzender Eisberge wortwörtlich kalte Schauer über den Rücken. Julian Charrière zieht aus der drohenden Klimakatastrophe einen provokant pessimistischen Schluss: Echte Wildnis wird es erst nach der Apokalypse wieder geben. Die Lavabrocken, die der Franko-Schweizer zur Endzeitlandschaft arrangiert, bestehen aus eingeschmolzenem Computerschrott.
Für sich genommen sind diese Bezüge gewiss interessant, doch alles zusammen bildet ein undurchdringliches Aussagendickicht. Aber vielleicht liegt genau darin die zentrale Erkenntnisleistung der Ausstellung: Wildnis ist überall, wo es so stark wuchert, dass der Durchblick fehlt.
»Wildnis«, bis 3. Februar 2019, »König der Tiere. Wilhelm Kuhnert und das Bild von Afrika«, bis 27. Januar 2019, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Römerberg, Frankfurt am Main.
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