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Geflüchtete als Lebensretter

Der Berliner SchwimmClub1001 bildet Menschen mit traumatischen Erfahrungen von Flucht, Krieg und Verlust zu Rettungsschwimmern und Trainern aus. Ein Besuch

Seine Geschichte sei zu lang, um sie zu erzählen, sagt Hachem. An diesem Montagnachmittag erzählt er trotzdem: über seine zweijährige Flucht aus Syrien, das üble Geschäft der Schleuser, Todesangst und immer wieder zerstörte Hoffnungen. Schnell verliert er sich in Details, die Erinnerungen werden beim Reden wieder lebendig.

Hachem ist zur Schwimmhalle »Märkisches Viertel« im gleichnamigen Kiez des Berliner Bezirks Reinickendorf gekommen. Es ist viel los: Kinder und Rentner, Anfänger und Fortgeschrittene, Schwimmen und Aquagymnastik - auf den sechs 50-Meter-Bahnen spritzt das Wasser genauso wie im Sprungbecken nebenan. Hachem steht in der Empfangshalle. Und der 21-Jährige steckt hier alle an mit seiner Lebensfreude. »Ich versuche, immer das Positive zu sehen«, sagt er. Gekommen ist er, um Sport zu treiben. Das könnte er überall in der Stadt. Aber er will zum SchwimmClub1001, zweieinhalb Stunden Fahrzeit zweimal in der Woche sind ihm dafür nicht zu viel.

Helfen mit einem Klick

FARBENBEKENNEN-Award - die Auszeichnung für besonderes Engagement von Flüchtlingen vergibt die Berliner Senatskanzlei in diesem Jahr zum ersten Mal. Das Motto 2018 lautet »Begegnungen«. Eine Jury aus Zivigesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft hat aus 70 Bewerbungen fünf Initiativen ausgewählt, die durch ihren Einsatz Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten zusammenbringen und somit helfen, Spaltung und Hass zu überwinden. Insgesamt ist der Award mit 6000 Euro dotiert. Mit einem Klick können auch Sie helfen: Bis zum 27. November kann man auf der Internetseite noch abstimmen. nd

Im Sommer 2016 hat Heike Witte das Projekt SchwimmClub1001 ins Leben gerufen - um Geflüchteten zu helfen. Sie wollte etwas finden, was Menschen mit Leidenschaft machen, was glücklich macht und verbindet. Sport. Engagiert hatte sich die 42-jährige Berlinerin schon vorher, wie Ende 2014 in ihrer Kampagne »Mit Herz für Flüchtlinge«. »Das war meine Antwort auf Pegida«, erklärt sie. Aus der privaten Initiative ist mittlerweile ein bundesweites Netzwerk geworden.

Mit ihrem Projekt wollte Witte ganz konkrete Hilfe anbieten, nicht nur Notlösungen. »Schwimmen ist ein Synonym für Freiheit«, meint die ehemalige Schwimmerin: »Es gibt nichts Schöneres, als im Sommer im See von der einen zur anderen Seite zu schwimmen.« Noch wichtiger, als Angebote für Anfänger zu machen, ist ihr die Ausbildung von Rettungsschwimmern. Einerseits gibt es zu wenige, und zu viele Ertrunkene. Rund 500 Menschen sterben in Deutschland pro Jahr im Wasser. Andererseits: »Als Rettungsschwimmer kann man Geflüchtete in einer anderen Position kennenlernen. Sie helfen. Respekt und Anerkennung verbessern das Miteinander«, erklärt Heike Witte ihren Ansatz.

Hachem will auch Rettungsschwimmer werden. »Um anderen zu helfen«, sagt er. Denn nur mit Hilfe gelang ihm die Flucht vor dem Tod. Verrat wurde seiner Familie in Syrien vorgeworfen. Im Sommer 2013 flohen sie nach Jordanien. Beim Grenzübertritt nahmen ihm Soldaten den Pass ab. »Ich hatte plötzlich nichts mehr. Und in Jordanien bist du als Flüchtling auch nichts.« Hachem wollte weg. Die geschlossene Gesellschaft bot keine Freiheit. Ein halbes Jahr musste er auf einen neuen Pass warten, für den er 1400 Dollar bezahlt hatte. Das nächste Ziel war Italien via Istanbul und Mersin. Hachem glaubte sich sicher und machte sich allein auf den Weg: Ein ehemaliger Nachbar aus Damaskus, der jetzt als Schleuser sein Geld verdient, empfahl ihm diese Route. 3000 Euro sollte die Überfahrt nach Italien kosten. Im türkischen Mersin angekommen, sollte er dann plötzlich das Doppelte zahlen.

Hachem setzt die Brille ab und reibt sich die Augen: »Ich kann mir das nicht noch mal vorstellen, allein und ohne Hoffnung in einem fremden Land, wo dich keiner versteht.« Aber er lacht; und sagt: »Mein Weg war so lang, der braucht einen Film.« Um nichts zu vergessen, hat er alles aufgeschrieben. Sein Weg führte ihn über einen anderen Schleuser nach Izmir, von dort mit 50 anderen in einem kleinen Boot zur griechischen Insel Lesbos. Über Athen, Mazedonien, Serbien, Ungarn, die Schweiz und Frankreich gelangte er nach Deutschland. Im Juni 2015 kam er in Aurich an, neun Monate später war er in Berlin. Im Mai 2016 bekam er eine Wohnung in Ahrensfelde.

Heike Witte hat wortwörtlich alle Hände voll zu tun. Sie sitzt im Eingangsbereich der Schwimmhalle »Märkisches Viertel« an einem Tisch. Vor ihr liegen Aufnahmeanträge und Einlasskarten. Kaum ein Moment, in dem sie nicht mit irgendjemandem oder irgendetwas beschäftigt ist. Es ist ihr mobiles Büro. Denn: Der SchwimmClub1001 ist Heike Witte. Aber: Sie macht es nebenberuflich. Und deshalb kann sie viele Namen nennen, die ihr und somit den Geflüchteten helfen. Wie Kathi. Wenn der SchwimmClub1001 jeden Montag und Donnerstag ins »MV« kommt, dann ist auch die Spandauerin da. Allein wäre das alles nicht mal mehr als Fulltime-Job zu stemmen. Mit zwei Geflüchteten fing es im August 2016 an, mittlerweile haben es zwölf zu Rettungsschwimmern geschafft. In Berlin arbeiten sie beispielsweise am Weißensee, aber auch an der Ostsee. Allein Kays, ein Palästinenser aus Syrien, hat im Sommer 2017 15 Menschen vor dem Ertrinken gerettet.

In naher Zukunft soll es auch zum festen Programm gehören, Geflüchtete zu Schwimmtrainern mit C-Lizenz auszubilden. Insgesamt haben bislang ungefähr 500 Menschen die Angebote beim SchwimmClub1001 genutzt, rund 100 kommen regelmäßig. Die meisten davon sind Nichtschwimmer - sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Irak, Iran oder Eritrea. Kinder, Teenager, Erwachsene, Mädchen und Frauen: Unterteilt in Anfänger und Fortgeschrittene wird in zehn verschiedenen Gruppen geübt und trainiert.

Heike Witte blickt durch die Glasscheibe in die Schwimmhalle. »Das ist Lonny«, sagt sie und zeigt auf eine ältere Frau im weißen Shirt am hinteren Beckenrand. Die Rentnerin leitet gerade die Aquagymnastik. Ihr Mann führte früher die Schwimmabteilung beim TV Waidmannslust, sie ist immer noch dabei. Der weiß-grüne Wimpel des Vereins liegt auf Wittes Tisch. »Wir haben uns mit dem SchwimmClub1001 an den TVW angedockt«, sagt sie und lobt sofort Jörg Landt. Der Vorstandsvorsitzende des TV Waidmannslust hat großen Anteil an der fruchtbaren Zusammenarbeit. »Er war von Anfang an offen für Integration.«

Wie lebendig das Miteinander ist, erlebt man in der Schwimmhalle »Märkisches Viertel«. Profitiert haben beide Seiten. Auf der Suche nach Partnern war Witte im Januar 2017 auf den TVW gestoßen. Eine Zukunft sahen die Waidmannsluster Schwimmer damals für sich nicht: keine Trainer, kein Nachwuchs. Witte hatte beides. Mittlerweile leitet sie die Schwimmabteilung des Vereins und managt den SchimmClub1001 - beide leben durch das Engagement der Geflüchteten.

Sabrina Hampe fiel die gute Arbeit schnell auf. Sie leitet beim Landessportbund Berlin das Projekt »SPORTBUNT - Vereine leben Vielfalt«. Und sie konnte schnell helfen. Seit Mai 2017 werden Witte und ihre Mitstreiter finanziell gefördert, so dass Trainer und Übungsleiter zumindest eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten. Die gute Arbeit fiel auch anderen auf. In diesem Jahr vergibt die Berliner Senatskanzlei erstmals den FARBENBEKENNEN-Award - eine Auszeichnung für besonderen Einsatz von Geflüchteten. Von 70 Bewerbern schafften es fünf in die Endauswahl, der SchwimmClub1001 ist dabei. Auf der Internetseite www.farbenbekennen.de kann man noch bis zum 27. November abstimmen.

Hachem wird langsam ungeduldig. Er will in die Halle, ins Wasser. Schließlich will er Rettungsschwimmer werden. Wie elf der bislang zwölf beim SchwimmClub1001 ausgebildeten Lebensretter, will er das später aber nur ehrenamtlich machen. »Ich möchte Bauingenieur werden«, sagt er. Für dieses Ziel lernt er auf dem Viktor-Klemperer-Kolleg in Marzahn, 2022 will er sein Abitur machen. Jetzt geht er erst mal schwimmen. Die Einlasskarte holt er sich bei Heike und Kathi - und bringt beide sofort zum Lachen. Die Freude ist Heike Witte anzusehen: »Das ist auch ein wichtiger Teil unserer Arbeit«, erklärt sie: »Menschen mit traumatischen Erfahrungen von Flucht, Krieg und Verlust wieder Selbstbewusstsein und Stolz zu geben.« Jetzt muss aber auch sie in die Halle. Witte trainiert gleich die Anfängergruppe der Mädchen.

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