Welche Menschen will man am Einwandern in die Bundesrepublik hindern?

Die Forderung nach der Bekämpfung der Fluchtursachen ist mittlerweile so inhaltslos geworden wie der Satz »Nachts ist dunkler als draußen«, weil seit Jahrzenten nicht einmal mit den ersten Schritten dafür begonnen wird

  • Tanju Tügel
  • Lesedauer: 5 Min.

Wann ist das Boot voll? Oder können wir doch alle bei uns aufnehmen?

Lange Zeit war »Das Boot ist voll!« als rassistisches Totschlagsargument verbreitet. Seit einiger Zeit ist die elegantere Formulierung »Wir können doch nicht alle bei uns aufnehmen« im Umlauf. Das klingt zunächst logisch und realistisch. Häufig wird noch der Satz »Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, damit die Menschen nicht flüchten müssen« hinterhergeschoben, der die ganze Argumentation »rund« macht und fast humanistisch klingen lässt. Dieses Argumentationsmuster finden wir auch in jenen Teilen der Partei die LINKE, die die Aussagen im Parteiprogramm zu Migration und ihrer speziellen Form Flucht als utopisch, realitätsfremd, illusorisch und in der Praxis nicht machbar ablehnen.

Zur Person
Tanju Tügel war der erste Ausländerbeauftragte der PDS und 1991 als Mitglied des Parteivorstandes der Einbringer des Leitantrages, auf den die bis 2011 geltende Formulierung „Offene Grenzen für Menschen in Not“ zurückging.

Im aktuellen, maßgeblich von der AfD und Politikern wie Friedrich Merz befeuerten Diskurs wird – völlig absurd und konstruiert – immer wieder nahegelegt, es stünden alle Menschen dieser Erde vor den Grenzen der Bundesrepublik. So werden Ängste geschürt, rassistisch-völkische Denkmuster bekräftig und unmenschliche Praktiken an den Grenzen gerechtfertigt. »Wir können nicht alle elf Milliarden Menschen bei uns aufnehmen« schrie ein AFD-Politiker unter Beifall des Publikums. Recht hat er, bei aktuell 7,65 Milliarden Weltbevölkerung dürfte es nicht möglich sein, elf Milliarden Menschen zu finden.

Auch fehlen die Argumente, warum alle Menschen zum Beispiel aus unseren Nachbarstaaten (Dänemark, Belgien, Niederlande, Frankreich, Schweiz, Luxemburg, Österreich, Polen und Tschechien) nach Deutschland kommen sollten. Durch die Freizügigkeit innerhalb der EU haben ohnehin gut 500 Millionen Menschen die Möglichkeit, in Deutschland zu leben. Bisher sind sie nicht da.

Und dennoch, obgleich es vollkommen irreal ist, bedient sich auch eine Gruppe innerhalb der LINKEN der Phrase, dass »nicht alle kommen können« – und das auch noch im Namen der Realpolitik. Wenn sie in der Tat gegen die Aussagen im Programm argumentieren wollen, sollten sie ehrlich sein und klar benennen, welche Menschen sie konkret am Einwandern in die Bundesrepublik hindern wollen.

Wie viele Menschen verkraftet Deutschland?

Ist eine Grenze für die Größe der Bevölkerung eines Landes zu bestimmen? Nein. Wenn wir als Vergleichsgröße bei der Bevölkerungsdichte pro Quadratkilometer beispielsweise die Mongolei nehmen, dürften aktuell in Deutschland gerade mal 714.000 Menschen leben. Nehmen wir als Vergleich Monaco, müssten es 6,9 Milliarden sein. Wann ein Land die Grenze der Existenzmöglichkeiten für die dort lebenden Menschen erreicht hat, ist gar nicht ohne weiteres von heute aus zu bestimmen. Fakt ist hingegen, dass in Teilen der Erde die Existenzgrundlagen für Menschen im Kontext der 500-jährigen kolonialen Ausbeutung zerstört wurden und sich die ehemaligen Kolonialmächte auf Kosten der Mehrheit der Menschheit erweitert reproduzieren.

Fluchtursachen bekämpfen? Ja. Einwanderung bejahen? Ja.

Die Forderung nach der Bekämpfung der Fluchtursachen ist mittlerweile so inhaltslos geworden wie der Satz »Nachts ist dunkler als draußen«, weil seit Jahrzenten nicht einmal mit den ersten Schritten dafür begonnen wird. Am 24. Oktober 1970 versprachen die Bundesrepublik Deutschland und andere Geberländer im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, ihre Entwicklungshilfe innerhalb von fünf Jahren auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) zu erhöhen. Bis heute – also 48 Jahre später - wurde dieses Versprechen nicht eingelöst.

Es ist natürlich richtig, die Beseitigung der Fluchtursachen zu fordern. Aber diese Forderung darf nicht als Argument für die Schließung von Grenzen und gegen Einwanderung missbraucht werden.

Offene Grenzen für alle Menschen oder für Menschen in Not?

Der Beschluss auf dem Parteitag der PDS im Dezember 1991 trug die Überschrift »Für ein Recht auf Zuflucht - für eine offene Gesellschaft«. Im Programm der PDS und in den programmatischen Grundsätzen der Partei DIE LINKE lautete die entsprechende Formulierung bis zum Jahr 2011 »Offene Grenzen für Menschen in Not«.

Dieser Kompromiss war in einer Zeit vereinbart worden, in der in der Bundesrepublik der Kampf um die Verteidigung des Asylrechts geführt wurde. Trotz aller Aktionen wurde leider am 26. Mai 1993 der Artikel 16 des Grundgesetzes geändert. Unter den 521 Ja-Stimmen im Bundestag waren auch die der meisten SPD-Abgeordneten. Die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit wurde nicht zuletzt durch die von Björn Engholm und Oskar Lafontaine innerhalb der SPD durchgesetzte »Petersberger Wende« unter den Sozialdemokraten erreicht. Nur drei Tage nach dem Beschluss im Bundestag - am 29. Mai 1993 - starben fünf türkeistämmige Menschen bei einem rechtsradikalen Brandanschlag in Solingen.

Im Jahr 1991 war – um eine sehr breite Mehrheit innerhalb der PDS zu erreichen – der Kompromiss vereinbart worden, von »Menschen in Not« zu sprechen. Der Kompromiss beinhaltete auch, dass die Beteiligten sich bei der Definition von »in Not« zurückhalten würden. Bis 2011 hat dies funktioniert und getragen. Bei der Beschlussfassung auf dem Erfurter Parteitag 2011 blieb diese Formulierung in der Zwischenüberschrift des entsprechenden Absatzes im Programm erhalten, im Text aber wurde eine weitergehende Formulierung angenommen – mit einer sehr deutlichen Mehrheit. »Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen« ist seither die klare Formulierung auf Seite 52 des Parteiprogramms der LINKEN, das beim Mitgliederentscheid 2011 mit 95,81 Prozent bestätigt wurde.

Inzwischen gibt es eine Gruppe innerhalb der LINKEN, die diese Aussage de facto nicht mehr anerkennt. Sie müssen sich entscheiden, ob sie Teil einer linken, internationalistischen Partei bleiben wollen oder sich zum Anwalt von Besitzständen machen, die im Kontext der kolonialen Ausbeutung entstanden sind und auf Kosten der Mehrheit der Menschen und Natur erweitert reproduziert werden.

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