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Pendelmasse - Pendlermasse
Pendeln ist ein höchst widersprüchliches Unterfangen, meint Stephan Fischer
Es gibt in Deutschland eine Massenbewegung, deren Mitgliederzahl jede sogenannte Volkspartei vor Neid erblassen lässt. Deren Mitglieder sich sowohl durch höchste Disziplin - tagtäglich! - und auch exzellente Zahlungsmoral auszeichnen, als auch an jedem Tag durch geistige Flexibilität und fast unendlichen Langmut glänzen. Pendler sind natürlich nicht die besseren Menschen - aber setzte man ihre oben genannten Qualitäten zielgerichtet ein, statt nur für Kreuz-, Quer-, Entgegen- und Voneinander-weg-Fahrten, ließen sich Probleme wie der Welthunger oder der Klimawandel in weniger als einer Verspätung »um wenige Minuten« lösen. Stattdessen pendeln Pendler einfach nur zur Arbeit und von dort nach Hause. Die meisten täglich, manche wöchentlich, einige monatlich. Wenn sie auch nichts anderes als ebenjener Umstand eint - es sind zumindest unglaublich viele: Rund 11 Millionen Menschen in Deutschland pendeln zur Arbeit, also mehr als ein Viertel aller Beschäftigten. Zur Arbeit - das ist ja nur der Hinweg. Diese elf Millionen sind also pro Tag mehr als eine Stunde unterwegs.
Diese Zahlen musste auch der Autor dieser Kolumne erst einmal sacken lassen, so wie er sich täglich in den glücklicherweise ganz gut gepolsterten, wenn auch schon etwas verschlissenen Sitz des Fernzugs der Deutschen Bahn fallen lässt. Ein Sitzplatz gehört praktisch zu den Grundbedürfnissen des Pendlers. Zwei Drittel aller Pendler nutzen ein Auto und haben diesen zumindest sicher. In Bahnen muss man reservieren oder wissen, wie man einen findet, was im innerstädtischen Berufsverkehr oft ein illusorisches Unterfangen ist. Gerade hierbei zeigt sich bereits die sehr flexible Duldsamkeit des Pendlers: Sitzplatzlosigkeit, im Fernverkehr als unerträglich wahrgenommen, wird im Nahverkehr fast freudig in Kauf genommen - man ist ja dankbar, wenn überhaupt was fährt bzw. einen auch mitnimmt.
Pendeln ist also auch ein höchst widersprüchliches Unterfangen: rasende stete Wiederkehr des ewig Gleichen, dabei an jedem Tag anders, manchmal auch Stillstand, der rasend macht. Und die Widersprüchlichkeit beginnt ja schon beim Begriff des Pendelns selbst: Vergegenwärtigt man sich ein Pendel in Bewegung, sticht ins Auge, dass die Pendelmasse immer genau dahin strebt, wo sie im Moment gerade nicht ist. Vielleicht gilt das auch für die Pendlermasse? Will die auf Arbeit eigentlich schon nach Hause oder von zu Hause schnell wieder zur Arbeit? Ist die Trägheit der Pendelmasse auch in den Hirnen und Herzen der pendelnden Massen zu finden, also: Ist man auf der Fahrt noch in Träumen im warmen Bett, schon am Schreibtisch, bloß nicht da, wo man im Augenblick tatsächlich ist, nämlich in einem blechumhüllten Raum neben einer defekten Zugtoilette? Wenn man Glück hat. Man könnte stattdessen ja auch im Stau stehen: Das Pendel kann immer noch schlimmer ausschlagen - zum Beispiel im Pendelverkehr ... Stephan Fischer
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