Die Justiz als zweite Gewalt

Werden Frauen Opfer von sexueller Misshandlung, haben sie es vor Gericht oft schwer. Kritische Juristinnen fordern einen besseren Opferschutz

  • Lotte Laloire
  • Lesedauer: 6 Min.

»Guten Tag, schön dass Sie gekommen sind.« Worte, die nicht alle Opfer zu hören bekommen, die zu einem Prozess wegen Vergewaltigung erscheinen. Stattdessen müssen manche sich im Gerichtssaal Aufnahmen ihrer eigenen Vergewaltigung anschauen. So ging es auch Anna. Sie war mit 19 Jahren in bewusstlosem Zustand mehrfach vergewaltigt worden. Eigentlich hatte sie keine Erinnerung daran. Doch die Täter hatten alles gefilmt. Diese Aufzeichnung musste die junge Frau dann vor dem Landgericht Münster ertragen. »Es war, als würde man durch die Hölle gehen, schlimmer als die Hölle. Es wurden mir Bilder aufgezwungen, die ich nie kannte, aber die ich jetzt auch nie wieder vergessen werde«, schildert Anna drei Jahre später in der Doku »Vergewaltigt. Wir zeigen an!«, die derzeit in der ARD-Mediathek zu sehen ist.

Anna, die nach den Erlebnissen im Gericht kaum noch in der Lage war, ihr Haus zu verlassen, hält eine Strafanzeige dennoch für richtig und alternativlos. Mit diesem Mut ist sie in der Minderheit. Wie wenige Frauen, die vergewaltigt werden, die Straftat anzeigen, ist nicht bekannt. In den letzten 14 Jahren hat keine einzige Frauenministerin mehr eine Dunkelfeldstudie durchgeführt. Angesichts eines Rechtsstaats, der sich so wenig für Opfer interessiert und diese vor Gericht so behandelt wie Anna, raten selbst Anwält*innen ihren Mandant*innen oft von einer Anzeige ab. Ein Strafverfahren bedeutet nicht unbedingt Aufarbeitung. Im schlimmsten Fall erleben Frauen als Opferzeuginnen vor Gericht ein zweites Mal Gewalt, meist psychisch.

Um das zu ändern, hat der Deutsche Juristinnenbund (djb) anlässlich des Tags gegen Gewalt an Frauen am 25. November nun ein ganzes »policy paper« mit Vorschlägen an den Gesetzgeber zur Verbesserung von Strafverfahren zu geschlechtsspezifischer Gewalt herausgegeben. Dass die Autorinnen rund um Ulrike Lembke, Professorin für öffentliches Recht, damit den Puls der Zeit treffen, zeigt der prall gefüllte Saal an der Berliner Humboldt Universität, wo sie das Papier am Donnerstag präsentierten. Die Juristinnen fordern auf insgesamt dreizehn Seiten Dinge, von denen man gedacht hätte, sie seien längst selbstverständlich: kostenfreie psychosozialer Prozessbegleitung, Studien zu Auswirkungen von Strafprozessen auf Opfer sowie mehr Informationsrechte und gesicherte Akteneinsicht für die Nebenklage. Mit dem Papier drängen die Expertinnen darauf, dass internationale Vorgaben zum Opferschutz eingehalten werden, etwa die Istanbul-Konvention des Europarates, die Deutschland im Februar ratifiziert hat.

Seit der Strafrechtsreform vor zwei Jahren habe sich das sogenannte »materielle Recht« für Betroffene zwar verbessert, sagt die Juristin und Kriminologin Anneke Petzsche bei der Veranstaltung. Das heißt, heute sind mehr Handlungen, so auch schon das Angrapschen, strafbar und können angezeigt werden. Wie aber mit Frauen wie Anna, die diesen Schritt wagen, vor Gericht umgesprungen wird, ist eine Frage des »formellen Rechts«. Wer Petzsche zuhört, erkennt, dass es hier nicht um trockene Paragrafen geht. Sie nennt Studien, die zeigen: Für Betroffene ist die eigene Behandlung vor Gericht oft wichtiger als die Höhe der Strafe für die Täter. »Die Opfer wollen einfach ernst genommen werden.«

Diese Einsicht habe erst ab den 1980er Jahren Einzug in die Gesetze gehalten. »Seit 1986 das Opferschutzgesetz eingeführt wurde, sind Opfer nicht mehr nur Beweismittel, sondern eigenständige Teilnehmende am Prozess«, erklärt die Wissenschaftlerin. Auch die Strafprozessordnung garantiert etwa das Recht auf Anwesenheit bei der Hauptverhandlung. Obwohl sie mittlerweile als Subjekte anerkannt sind, fehlt laut dem djb-Papier hierzulande aber noch immer eine Legaldefinition für »Opfer« oder »Verletzte«. Das Fehlen wird oft damit begründet, dass Gerichte sich mit dieser Wortwahl selbst binden und bei Opfern eine bestimmte Erwartungshaltung über den Ausgang des Prozesses auslösen könnten. Tatsächlich besteht hier ein Spannungsfeld zwischen der Unschuldsvermutung für Beschuldigte und der Verletzungsvermutung für Opferzeuginnen. Gerade in einer Definition für »Opfer« könnte festgehalten werden, dass diese Bezeichnung nur vorläufig ist. Für Betroffene wäre das auch wichtig, damit sie weniger unangenehme Diskussionen über ihre Rolle im Prozess aushalten müssen.

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Eine andere rechtliche Errungenschaft, damit Opferzeuginnen nicht unnötig über ihr Privatleben ausgefragt werden, ist der Paragraf 68a Strafprozessordnung, wodurch das Fragerecht begrenzt werden kann. »Das ist eine Regelung, die in der Praxis leider oft ins Leere läuft«, klagt Petzsche. Der djb will, dass dies konsequenter angewendet und ausgeweitet wird. Fragen zum vorangegangenen Sexualleben der Verletzten sollen ganz ausgeschlossen werden. Die Wahrheitsfindung solle dabei keinesfalls behindert werden, aber Fragen über das Vorleben der Opfer beförderten ohnehin meist eher Stereotype über Frauen. Derartige Fragen sind typisch für »Krawallverteidiger«, wie die Berliner Fachanwältin für Strafrecht, Christina Clemm, solche Kolleg*innen nennt.

Belastend ist auch das »victimblaming«, das mit Prozessen oft einhergeht. So bezeichnet sich die Behauptung, Frauen seien an ihrer Vergewaltigung selbst schuld, wie Leonie Steinl, Vorsitzende der Strafrechtskommission des djb, erklärt. »Das kann darin gipfeln, dass selbst der Spitzen-Stringtanga wie neulich bei einer 17-Jährigen in Irland als Beweismittel für ihr angebliches Einverständnis herangezogen wird.«

Dass solche Verteidigungsstrategien funktionieren, ist indes nicht nur die Schuld der Rechtslage, sondern liegt auch an patriarchalen Denkstrukturen der Beteiligten. Das weiß auch Lembke, die Begründungstexte von Urteilen systematisch auf solche Mythen hin untersucht hat. »Im Rechtsgebiet zu Vergewaltigung gibt es keinen mächtigeren Mythos als den der lügenden Frau«, zitiert sie die US-amerikanische Anwältin Susan Estrich. Besonders perfide sei die Behauptung, dass Frauen von Strafverfahren profitieren würden, findet Steinl. Auch die jahrelange Tätigkeit der Anwältin Clemm widerlegt diesen Mythos: Sie habe noch keine einzige Frau erlebt, die durch eine Anzeige neue Freunde oder Karrieremöglichkeiten gewonnen hätte.

Im Gegenteil, gerade bei häuslicher Gewalt, wo 82 Prozent der Opfer weiblich sind, zahlen indirekt oft die Frauen die Strafen. Denn während die Männer im Gefängnis sitzen, müssen die Frauen oft auf Unterhaltszahlungen verzichten. Der Fall von Anna war anders gelagert, doch auch sie hat durch das Verfahren finanziell nichts gewonnen. Bis heute hat sie die Entschädigung nicht erhalten, die ihr zusteht – weder von den Verurteilten für die Tat, noch vom Staat für die traumatisierende Gerichtsverhandlung.

Abschließend fasst Lembke zusammen: »Das Recht wird besser, der Opferschutz wird besser, aber die Verfahren werden nicht besser, mehr als je zuvor werden eingestellt«. Über die djb-Forderung, dass Personal und Ressourcen aufgestockt werden müssen und Fortbildungsmaßnahmen für Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte verpflichtend sein sollten, sind sich die Expertinnen einig. Was das betrifft, macht die Saarbrücker Staatsanwältin Sabine Kräuter-Stockton allerdings eine Ergänzung: Maßnahmen zur Sensibilisierung könne man »den Leuten nicht aufzwingen«. Für junge Juristen müssten deshalb von oben auch materielle Anreize geschaffen werden, sich auf dieses Rechtsgebiet zu spezialisieren, »statt immer nur auf Themen mit schicken Namen wie Cyperkriminalität«. Dann würde das Rechtsgebiet Vergewaltigung vielleicht eines Tages aus der »Schmuddelecke der Jurisprudenz« herauskommen, wie Lembke es nennt.

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