Wer aufruft und selbst hocken bleibt - kann nicht glaubwürdig Bewegung sein

Die linke Sammlungsbewegung ist für Peter Grottian bei aller Sympathie für das grundsätzliche Anliegen zum Scheitern verurteilt

  • Peter Grottian
  • Lesedauer: 9 Min.

»Aufstehen« ist mehr als Empörung. »Aufstehen« bedeutet, Kritik und Protest in Handlungen zu übersetzen. Das Repertoire ist vielfältig: von Petitionen und Demonstrationen bis zu Aktionen des zivilen Ungehorsams, zu Besetzungen, Belagerungen und Boykotten. Vielfältigkeit ist das oft überraschende Salz in der öden Suppe der Demokratie. Sie ist die Voraussetzung für eine lebendige und modernisierungsfähige Gesellschaft. Viele Bürger*innen erleben Demokratie verstockt, den Imperativen der Ökonomie unterworfen und ohne wirkliche Möglichkeit der Partizipation. Die »marktkonforme Demokratie« (Angela Merkel) hat das Verhältnis von repräsentativer Demokratie zur Zivilgesellschaft zu einem repräsentativen ökonomischen Absolutismus ausgebaut. So gesehen ist der Aufruf zum »Aufstehen« verständlich und fast überfällig und folgt einer guten Tradition, mit sozialen Bewegungen der etablierten Politik immer wieder Beine zu machen.

Irritierend ist nur, dass der Aufruf zum Aufstehen von zwei langgedienten Parteipolitikern, Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, damit von oben fast allein kommt und nicht von einer »Demokratie-Bewegung von unten«. Das französische Vorbild stand Pate, links-liberalen politischen Mehrheiten mit einer linken Sammlungsbewegung zum Durchbruch zu verhelfen.

Das Projekt ist bei aller Sympathie für das grundsätzliche Anliegen zum Scheitern verurteilt: kopf- und konzeptionslos, miserabel schlecht vorbereitet, auf das Duo Wagenknecht / Lafontaine fixiert und vor allem unglaubwürdig, weil Wagenknecht und Lafontaine weder Aufstehen noch Bewegung können. Das sind starke Worte für eindeutige Sachverhalte, die aus der Perspektive der sozialen Bewegungen zunächst harsch und unerbittlich klingen.

1. Kopf- und konzeptionslos.

Merkwürdig: Wer fast alle Bücher und Aufsätze von Lafontaine und Wagenknecht gelesen hat, der sollte doch eigentlich auf eine Art theoretische oder konzeptionelle Begründung für »Aufstehen« gestoßen sein. Erstaunlicherweise: Die gibt es nur in vagen Andeutungen. Bei den Zukunftsszenarien von Wagenknecht spielt eine Strategie des Aufstehens mit sozialen Bewegungen und der Zivilgesellschaft oder ein Bündnis von linken Parteien und sozialen Bewegungen keine Rolle. Lafontaine hatte mit sozialen Bewegungen noch nie etwas am Hut, außer einem eher taktischen Verhältnis wie dem zur Friedensbewegung. Ganz Links-Keynesianer und linker Sozialdemokrat, also staatszentriert.

Auch der theoretisch ausgewiesene Mitstreiter Wolfgang Streeck, der eine der gescheitesten Analysen zur Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften vorgelegt hat, ist angesichts seiner eher aussichtslosen Befunde niemand, der sich bisher über die Erfolgsaussichten vom Typ »Aufstehen« erklärt hat. Er hat jüngst in einem beeindruckenden Artikel in der »FAZ« eine Debatte relevanter Probleme und Themen angemahnt, aber keine Silbe über die Perspektiven einer linken Sammlungsbewegung geschrieben. Zu Bewegungen hat er wissenschaftlich und politisch offensichtlich kein engeres Verhältnis.

So kommt es, dass »Aufstehen« bis heute noch nicht einmal ein vorläufiges Konzept, sondern nur einen ganz allgemein gehaltenen Aufruf vorweisen kann. Sahra Wagenknecht will es der Bewegung überantworten. Das ist weder überzeugend noch couragiert. Eine vorläufige Vorstellung sollte man sich schon zutrauen, die bei einer wirklich dynamischen Bewegung ja rasch verändert werden kann. Weit über 100.000 Menschen erfolgreich zur »Einschreibung« ermuntert zu haben ohne ein Konzept – das wirkt kopflos. Es gleicht dem sprichwörtlichen Einkauf der Katze im Sack.

2. Dilettantischer Vorbereitungsprozess

Wer auf eine linke Pluralität setzt, muss sie auch selbst praktizieren. Der Ansprech- und Beratungsprozess verlief zumeist in Einzelgesprächen oder in einem kleinen Kreis. Genauer: Eher unfreiwillig hat der Dramaturg Bernd Stegemann in der »Zeit« berichtet, dass Wagenknecht ansprechen lässt, also eine Zurückhaltung an den Tag legt, die man nicht vermutet. So konnten Rudolf Dressler, Antje Vollmer, Wolfgang Streeck, Bernd Stegemann, Ludger Vollmer u.a. gewonnen werden. Das wirkt einäugig und dilettantisch. Kein Mut, wichtige Akteure einzuladen aus Menschenrechts- und Bürgerrechtsbewegungen, den Jugendorganisationen, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, sozialen Bewegungen, den Umwelt- und Naturschutzinitiativen, den Kulturschaffenden, den Wissenschaftlern, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – und einzusammeln: in einem Kloster wie Maria Laach. Mit gutem Essen und einem vorzüglichen Wein, um an zwei Tagen das Projekt mit 40 bis 70 Personen zu diskutieren.

So bleibt der Eindruck nicht von Buntheit von »Aufstehen«, sondern von bewusster Machtzügelung durch Lafontaine und Wagenknecht. Die Macho-Variante, selbst die Strippen zu ziehen und die Galionsfigur Wagenknecht vorzuschicken, wirkt abgestanden und retro. Der Vorbereitungsprozess zeigt auch die Parteienoptik: Es gibt offenkundig kein ausreichendes Personen-Netzwerk im breiten linken Spektrum. Mohssen Massarrat, Ludger Vollmer sowie eine in der SPD wenig einflussreiche Oberbürgermeisterin aus Flensburg, die Liste der Initiatoren ist wenig eindrucksvoll, eher peinlich. Die Fähigkeiten des Beatmens und Überzeugens scheinen sehr begrenzt. Auch dass Wagenknecht noch nicht einmal den Mut hatte, von sich aus ihr Konzept in der Bundestagsfraktion der LINKEN vorzutragen, sondern nur nach Aufforderung, spricht Bände gegen Wagenknecht und die Partei. Wer als Partei 50 Prozent seiner Arbeitszeit dafür einsetzt, die jeweilig anderen Machtfraktionen zu belauern, kann nicht in guter Verfassung sein.

3. Wer aufruft und selbst hocken bleibt, ist nicht sehr glaubwürdig

Lafontaines Phasen des zivilen Ungehorsams sind lange her. In Mutlangen blockierte er 1983 mit Heinrich Böll und Erhard Eppler sowie tausenden Friedensaktivist*innen die Pershing-Raketen. Aber seit seinem Beitritt in die LINKE ist das Repertoire an tatenreichen Auftritten der Aufmüpfigkeit schmal geworden. Und bei Sahra Wagenknecht ist in ihrem Verhalten eher eine sozialistische Königin zu erkennen – fast keine Präsenz in gesellschaftlichen Konflikten. Genauer: brillant auf Podien und in Talkshows, aber beim Aufstehen von unten nicht dabei. So gilt für Lafontaine und Wagenknecht: nicht bei den großen Demos gegen Hartz IV in Berlin, Leipzig, Dresden und Chemnitz, Null-Engagement bei Besetzungen von Arbeitsämtern, den späteren Arbeitsagenturen, kein Engagement für die sanktionsgebeutelten fast eine Million Hartz IV-Empfänger. Presseerklärung, das war‘s. Unterstützung der Netzwerktreffen vor allem der ostdeutschen Initiativen: nichts. Wobei Katja Kipping wenigstens dezent-zurückhaltend präsent war. Die etwas spektakulären Belagerungen/Umzingelungen von Rüstungsbetrieben in Berlin, München, Kassel und Oberndorf fanden ohne Lafontaine/Wagenknecht statt. Die jüngsten Wellen von Mieterprotesten in Berlin und anderswo: auch ohne Oskar und Sahra. Die Hausbesetzungen in Berlin, Leipzig und München: noch nicht einmal eine Solidaritätsadresse. Und dass sich Oskar und Sahra in der Flüchtlingsarbeit zumindest für drei Tage symbolisch zur Verfügung gestellt hätten, ist öffentlich jedenfalls nicht bekannt.

Diese Liste könnte mühelos verlängert werden. Kurzum: Wer zum Aufstehen aufruft, sollte getrost bei den Maßstäben in den Spiegel schauen können. Dabei fallen Lafontaine und Wagenknecht glatt durch. Radikale Sprüche und gute Analysen benötigen ein Mindestmaß an glaubwürdigem Engagement und symbolischer Präsenz – einfach Dasein. Das haben beide eher gemieden. Das weist auf einen strukturellen Mangel hin: Mit Partei-Scheuklappen sieht man nur einen Ausschnitt von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Oder anders: Lafontaine und Wagenknecht können halbwegs Partei, aber nicht Bewegung. Da fehlt es an Bewegungsintelligenz. Sie sind schlicht bewegungsunmusikalisch.

Fazit: Falsche Hoffnung kann tödllich sein. Das Projekt »Aufstehen« wird wie die Idee des »Instituts für solidarische Moderne« ein Flop, den man bei durchdachter Vorarbeit hätte vermeiden können. Der am 4. September erfolgte Aufbruch wird die öffentliche Auseinandersetzung entfachen – und rasch zeigen, dass es am Konzept, guten und beharrlichen Mitstreitern und an breiter Legitimation fehlt. Noch nicht einmal um Personal und Geld hat man sich gekümmert und hofft auf Spenden, wie Bernd Stegemann unfreiwillig auf der Pressekonferenz sagte. Das ist blauäugig und dilettantisch. Wer 100.000 Menschen organisieren will, braucht schon 50 Leute, die man professionell nennen kann. Wenn von den mehr als 50.000 Unterstützern nur 5.000 in Saarbrücken, 5.000 in Dortmund und 10.000 in Berlin Rückhalt bieten könnten, wäre die Glaubwürdigkeit ungleich anders. Die ersten öffentlichen Auftritte in Berlin, Saarbrücken und Dortmund sahen eher nach verzagten Häuflein aus.

Ich wette drei Kisten guten Wein aus Macrons Weinkeller, dass die 100.000 Mitstreiter weitgehend auf ihren Sofas hocken bleiben. Die Kultur des Aufbegehrens ist in Deutschland noch viel zu schwach, zumal die jüngere Generation sich ganz einfach aus der Verantwortung stiehlt und die sozialen Bewegungen nicht gerade in bester Form sind. Die 80 prominenten Unterstützer haben noch nicht einmal getagt, die Diskussion über das eigene Demokratiemodell ist im vollen Gange und sehr disparat. Viele Vorschläge für das Aufstehen in verschiedenen Politikfeldern sind eingereicht – z.B. zur Arbeitszeitverkürzung, Widerstand gegen die Rüstungsexporte und Aktivität gegen die Rechtsentwicklung. Einige regionale und lokale Gruppen haben sich gegründet. Ein »Fahrplan« für eine Strukturierung des weiteren Gründungsprozesses liegt – Stand 25. Oktober 2018 – nicht vor.

Den aktuellen Beleg ihrer strategischen Einäugigkeit lieferte Wagenknecht jüngst im Hambacher Forst und auf der Berliner Großdemonstration »unteilbar«, wo ein breit gefächertes Bündnis 230.000 Menschen auf die Straßen Berlins brachte. Im Hambacher Forst erschien Wagenknecht nicht – weder als ganz normale Demonstrantin noch als Solidaritäts-Gruß-Rednerin. Im Vorfeld der Großdemonstration »unteilbar« wollte sie die Demo nicht mittragen, obwohl den Aufruf immerhin über 400 gesellschaftlich relevante Organisationen und viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnet hatten. Die Sturmzeichen für die Sammlungsbewegung sind ausgeblieben. Ein Mitglied des Koordinierungskreises umschrieb die Lage so: Ein Aufstehensprojekt auf sozialpolitischem Feld ist noch nicht in Sicht, ein professioneller Mitarbeiterstab noch nicht beschlossen, da die Spendeneingänge bei zirka 40.000 Euro liegen. Die Dezentralisierung in Lokal- und Regionalgruppen mache große Fortschritte. So seien die Gründungsversammlungen vor allem im Osten mit oft 300 bis 400 Teilnehmern überfüllt. Eine erste Auswertung der 160.000 Eingeschriebenen zeige, dass die große Mehrheit aus dem Bereich derer kommt, die bisher keine Parteibindung hatten und in politischer Arbeit nicht über politische Erfahrung verfügen.

In der Koordination der Führungskreise sei es Konsens, die Dominanz von Sahra Wagenknecht zurückzufahren. Die jetzt zur Sammlungsbewegung dazugestoßenen Michael Brie und Peter Brandt kümmerten sich um die Gewinnung von bekannteren Persönlichkeiten und eine Pluralisierung der Bewegung. Sahra Wagenknecht habe intern eingeräumt, dass ihr Verhalten gegenüber der »unteilbar«-Demonstration ein Fehler gewesen sei. Noch immer haben die 80 Gründer und Gründerinnen sich nicht zu einer zweiten ausführlichen Sitzung getroffen.

Kurzum: Die typischen Defizite einer Bewegung sind offensichtlich: schwache Professionalität, unklare Organisationsstrukturen, ganz wenig Geld. Alles wartet auf einen exemplarischen Versuch des Aufstehens. Darüber habe die Diskussion noch nicht einmal begonnen.

Ungeschminkt und zugespitzt formuliert: Wenn nicht Sahra Wagenknecht / Oskar Lafontaine oder andere einen Kredit über 500.000 Euro auf ihre werthaltigen Anwesen aufnehmen, um die Personalkosten für eine professionelle Aufbauarbeit zu finanzieren, wenn nicht ein »Aufstehen« an den Arbeitsagenturen, Rüstungsbetrieben oder Autokonzernen exemplarisch mobilisiert wird, ist die linke Sammlungsbewegung den Hasen zu überantworten. Mit der Konsequenz, dass die Anstifterin sich wieder in der Fraktion als Abgeordnete einreihen sollte.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.