»Wir haben ein Antisemitismusproblem«

Dervis Hizarci ist selbst Lehrer und entwickelt Bildungsprogramme gegen Judenfeindlichkeit an Schulen

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 4 Min.

Laut einer EU-Umfrage nimmt der Antisemitismus aus Sicht der jüdischen Bevölkerung zu. In Deutschland gaben so viele Befragte wie in keinem anderen Land an, antisemitisch bedrängt worden zu sein. Haben Sie die Ergebnisse überrascht?

Die Ergebnisse sind nicht überraschend, sondern erschreckend! Manche versuchen diese als Phänomen der Wahrnehmung und nicht ein Abbild der Realität zu verharmlosen. Doch selbst wenn es Wahrnehmungen wären, müssen wir sie sehr ernst nehmen, da sie nicht von ungefähr kommen. Fakt ist, wir haben ein Antisemitismusproblem.

Zur Person
Dervis Hizarci arbeitet als Lehrer an einer Kreuzberger Gesamtschule und ist Vorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA), die Bildungsprogramme gegen Antisemitismus an Schulen entwickelt. Über Handlungsempfehlungen des Berliner Arbeitskreises gegen Antisemitismus und die Aufgaben der neuen »Praxisstelle Bildung und Beratung« sprach mit ihm Jérôme Lombard.

Vor einem Jahr hat Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) den Berliner Arbeitskreis gegen Antisemitismus ins Leben gerufen, um effektivere Strukturen zur Bekämpfung von Judenhass in der Hauptstadt zu schaffen. Welche Handlungsempfehlungen wurden erarbeitet?

Die Antwort steckt in der Frage. Es geht darum, effektive Strukturen aufzubauen. Und da gibt es Aufgaben für uns alle. Als Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement möchte Sawsan Chebli natürlich in erster Linie das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Antisemitismus stärken. Doch darüber hinaus ist es auch wichtig, dass man Politik, Verwaltung und Medien erreicht und mitnimmt. Nur wenn alle gemeinsam an einem Strang ziehen, kann es etwas werden. Und mit dem Arbeitskreis versuchen wir genau das: Ein stabiles Netzwerk in Berlin aufzubauen.

Seit Kurzem finanziert der Senat eine »Praxisstelle Bildung und Beratung«, die als zentrale Anlaufstelle für Schulen bei antisemitischen Vorfällen dienen soll. Die KIgA ist Trägerin des Projekts. Wie kam es dazu und was kann man sich darunter vorstellen?

Die Praxisstelle wurde als Reaktion auf die steigenden Anfragen von Schulen gegründet, die einen akuten Bedarf an Präventionsangeboten deutlich machen. Denn leider kommt es auch an Berliner Schulen immer wieder zu unsäglichen antisemitischen Vorfällen, die ein konsequentes Handeln erforderlich machen. Die Praxisstelle bietet uns die Möglichkeit, sowohl auf aktuelle Fälle zu reagieren, als auch fundierte Handlungsstrategien zu implementieren. Schulleitungen, Lehrkräfte, aber auch Eltern und Schüler können uns kontaktieren, wenn sie zum Beispiel etwas zum Thema Antisemitismus in der Schule machen möchten, oder aber auch nach einem antisemitischen Vorfall Beratung benötigen und sich Interventionshilfe wünschen. Wir haben pädagogisch-inhaltliche Angebote sowohl für Lehrkräfte als auch für Schulklassen.

Diskriminierung an Schulen geht nicht nur von Schülern, sondern auch von Lehrern aus. Für das Schuljahr 2016/17 zählte die Antidiskriminierungsbeauftragte der Senatsbildungsverwaltung 106 Fälle, in denen Schüler rassistisch oder antisemitisch gemobbt wurden. Ein Drittel dieser Diskriminierungen ging dabei von Pädagogen aus. Wie können Lehrer stärker für das Thema sensibilisiert werden?

Es führt kein Weg daran vorbei, dass Lehrkräfte auch an ihren eigenen Vorurteilen arbeiten. Wir müssen im Grunde dasselbe machen, was wir auch von unseren Schülern erwarten: Uns selbst hinterfragen, kritisch überprüfen und gegebenenfalls auch korrigieren. Wir brauchen generell eine diskriminierungssensible Haltung. Lehrkräfte müssen vorleben, was sie von der Klasse erwarten und bei allen antisemitischen, rassistischen, diskriminierenden und menschenfeindlichen Äußerungen konsequent einschreiten.

Was können Lehrer ihrerseits tun, um Antisemitismus entgegenzuwirken?

Im Kampf gegen Antisemitismus möchte ich Lehrkräfte dazu ermutigen, möglichen inneren Widerständen oder Ängsten zu trotzen. Ich möchte sie darin stärken, dass man etwas gegen Antisemitismus tun kann und auch muss. Wir müssen ihnen das nötige Know-How an die Hand geben, damit sie die verschiedenen Spielarten des Antisemitismus erkennen können. Wenn es im Unterricht um den Nahostkonflikt geht, können Pädagogen häufig nicht zwischen legitimer Kritik an bestimmten Akteuren in Israel und antisemitisch motivierter Kritik am Staat Israel insgesamt unterscheiden. Deshalb erkennen sie antisemitisch codierte Aussagen oft nicht und lassen pauschale Äußerungen gegen Israel als legitime Meinungsäußerung zu. Aber ich brauche keinen Experten, wenn »du Jude« als Schimpfwort fällt. Da reagiere ich sofort und lasse so etwas nicht zu.

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