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2019 - alles im Griff
Zum Jahresende boomen die Wirtschaftsprognosen. Stephan Kaufmann erklärt, wie die Vorhersagen entstehen, warum sie meist nicht stimmen - und überlegt, welchen Zweck sie erfüllen
Menschen kennen Wachstumsschmerzen, Ökonomen kennen Wachstumsängste. »Growth fears« plagen derzeit Unternehmer, Investoren und Banker angesichts der Konjunkturschwäche. Bang blicken die Experten ins neue Jahr - wo wird die Wirtschaft im Dezember 2019 stehen? Niemand weiß es. Diese Unwissenheit ist einerseits allen Prognostikern bewusst. Andererseits bringen sie ihren riesigen Theorie-Apparat in Gang, um trotz aller Unwägbarkeiten exakte Vorhersagen zu treffen und so die tröstliche Illusion zu erhalten, man habe den Laden Weltkapitalismus irgendwie im Griff. Das Geschäft mit der Prognose folgt seinen eigenen Regeln.
Dinge produzieren
Wirtschafts-Prognostiker fragen sich, was die Menschheit im nächsten Jahr produzieren wird. Bemerkenswert ist zunächst, was bei der Vorhersage keine Probleme bereitet: die materiell-technische Seite. Denn die hat der Mensch gut im Griff. Wer weiß, wie viele Brote er 2019 backen muss, der weiß auch, was er dafür brauchen wird - wie viel Mehl, Wasser, Energie, Arbeitskräfte. Gleiches gilt für kompliziertere Produkte wie Autos. Die 2019 benötigten Mengen und Qualitäten an Rohstoffen und Betriebsmitteln sind kein Rätsel, wenn man weiß, wie viel hergestellt werden soll. Und auch den Bedarf zu ermitteln, wäre kein unüberwindliches Hindernis. Denn die Bedürfnisse der Menschen sind sehr stabil. Das Problem der Unternehmen ist heutzutage eher, neue Bedürfnisse zu wecken.
Rendite produzieren
Das Problem bei der Prognose ist nicht der Technik, sondern der Wirtschaftsweise geschuldet. Denn die Unternehmen wollen nicht Güter zur Bedarfsdeckung produzieren, sondern eine Kapitalrendite, also einen angemessenen Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben. Und damit gerät alles in Bewegung. Die Preise für die Produktions-Inputs schwanken und sind ebenso wenig vorhersehbar wie die Zahlungsfähigkeit der Kunden oder die zu bestimmten Preisen absetzbaren Mengen. Umsatz und Gewinn 2019 - unbekannt. Der Markt macht verlässliche Planung unmöglich, weil alle Wettbewerber um die zahlungsfähige Nachfrage konkurrieren. Damit hat kein Unternehmen seinen Erfolg selbst in der Hand. Denn egal, was es tut - es kann immer einen Wettbewerber geben, der besser und billiger anbietet.
In der Marktwirtschaft steht daher am Anfang jeder Produktion eine Spekulation: Die Annahme, dass sich eine Geldausgabe fürs Unternehmen rentiert, dass es in Zukunft mehr einnimmt als es ausgegeben hat. Spekulation kommt vom lateinischen »speculor«: beobachten, spähen, Ausschau halten. Der Blick ist in die Ferne gerichtet, in die Zukunft. Der Produktion liegt eine Erwartung zugrunde oder richtiger: eine Mutmaßung, eine Hoffnung. Der Ausdruck »Investition« tut zwar so, als wäre im Moment der Geldausgabe schon klar, dass sich die Hoffnung erfüllt, dass neuer Reichtum und Einkommen entstehen. Doch beweist jede Pleite, jede »Fehlinvestition« das Gegenteil.
Spekulation ist keine Eigenart der Finanzmärkte. Hier bezeichnet Spekulation allerdings beides gleichzeitig: die Erwartung einer bestimmten Entwicklung und die Handlung, die auf dieser Erwartung beruht.
Sicherheit produzieren
»Obwohl Prognosen fast nutzlos sind, hören wir nicht auf, sie zu machen und an sie zu glauben«, wundert sich der US-Finanzblogger Barry Ritzholtz. Dabei liegt hier kein Widerspruch vor, sondern eine Kausalität. In einer Wirtschaft, die auf Erwartungen beruht, braucht es gerade wegen der allgemeinen Unsicherheit irgendwelche Annahmen darüber, was die Zukunft bringt. Irgendwelche Szenarien müssen die Unternehmen ihrer Produktion zugrunde legen. Experten-Prognosen sind daher ein gutes Geschäft.
Die Experten trauen sich diese Übung zu. Sie müssen es. Denn sollten sie Prognosen verweigern mit dem Hinweis darauf, dass sie auch nicht wissen, wie sich das von ihnen untersuchte Wirtschaftssystem entwickeln wird, würden sie sich dem Verdacht aussetzen, dass sie eigentlich nicht wissen, wie es funktioniert. Doch davon gehen sie aus.
Der Kombination aus Unvorhersehbarkeit und Beherrschbarkeit der Wirtschaftsentwicklung entspringt die Metaphern-Welt der Berichterstattung. Einerseits wird die Ökonomie als Maschine präsentiert, die man kontrollieren kann. Mal stottert der Konjunkturmotor, dann ist die Konjunktur unter Dampf, verliert schließlich an Fahrt, was zu der Frage führt: »langsamer Sinkflug oder harte Landung?«. Aufschwung, Abschwung - hier gehorcht alles der Physik, wird also vielleicht nicht immer beherrscht, ist aber prinzipiell beherrschbar.
Gleichzeitig gilt die Wirtschaft als unbeherrschbares Naturphänomen: Da brauen sich Unwetter zusammen, die Wirtschaft kühlt sich ab, und in der Flaute müssen Konjunkturbarometer zu Rate gezogen werden. In diesem Umfeld »schaffen Prognosen die Illusion von Kontrolle und Stabilität«, so Ritzholtz.
Dass treffgenaue Vorhersagen bestenfalls zufällig gelingen, begründen Ökonomen meist nicht mit den Gesetzen der herrschenden Ökonomie. Sondern mit der menschlichen Psyche. Die Handlungen von Milliarden von Individuen seien schlicht nicht vorherzusehen, so die Entschuldigung, die gleichzeitig die Experten dazu animiert, die Seelen der Menschen auszuleuchten. »Vertrauensindikatoren« werden erhoben, die »Konsumentenstimmung« wird eruiert und beispielsweise eine »Stimmungsverschlechterung bei den Unternehmen wegen der Eintrübung der Exporterwartungen« festgestellt. Das Auf und Ab der Konjunktur wird zum Psychodrama. Die Unsicherheit des Kapitalismus wird zur Unsicherheit des Lebens.
Prognosen produzieren
Über Fehlprognosen macht man sich gerne lustig. Andererseits ist festzustellen: Total daneben liegen die Wirtschaftsexperten selten. Wie schaffen sie das? Im Grunde ist das einfach: »Prognostiker konstruieren Geschichten über die Zukunft, die auf vergangenen Erlebnissen beruhen«, erklärt eine Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Kunst der Vorhersage besteht darin, aus der Vergangenheit Muster zu extrahieren, die immer - also auch in Zukunft - gelten.
Die Seele der Vorhersage ist also die Extrapolation, also die Fortschreibung von »Trends«. Allen Konjunkturprognosen zugrunde liegt die Annahme eines stetigen Wirtschaftswachstums. Wie stark dieses »Potenzialwachstum« ist, darüber wird gestritten. Eine bewährte Methode ist es, einfach den Durchschnitt der vergangenen Jahre zu nehmen und in die Zukunft zu verlängern. Dieses Wachstum, so die zweite Grundannahme, verläuft nicht stetig, sondern in Zyklen. Wie in der Natur: Dem Frühling (Aufschwung) folgt immer der Sommer (Boom), darauf folgen Herbst (Abschwung) und Winter (Depression), und dann geht alles von vorne los.
Die eigentliche Arbeit des Prognostikers besteht darin, anhand von unzähligen Daten zu bestimmen, ob es ein starker oder schwacher Zyklus ist und an welchem Punkt des Zyklus die Welt sich gerade befindet. Hier hat der Sachverstand sein weites Spielfeld. So kann man aus sinkenden Einkaufsmanagerindizes eine Konjunkturabschwächung herauslesen oder aus den monatlichen Maschinenbau-Aufträgen aus Japan die Fortsetzung des chinesischen Booms ableiten.
Ökonomen glauben an die Wiederkehr des Immergleichen. Deswegen sind sie nicht in der Lage, schwere Krisen vorherzusehen. Sie passen nicht ins Muster. »Große Prognosefehler« erkennt der IWF daher selbst zu Zeitpunkten, zu denen die Rezession bereits läuft. Das gleiche gilt laut IWF für sehr starke Aufschwünge. Denn Ökonomen sind konservativ. »Strukturmodelle, die in normalen Zeiten verlässliche Prognosen liefern, stoßen bei historischen Wachstumseinbrüchen an die Grenze des Machbaren«, so erklärte ein deutscher Ökonom die Tatsache, dass fast niemand die vergangene große Krise hatte kommen sehen. Sie war ein Unfall, unvorhersehbar.
Wie wird 2019?
Die aktuellen Prognosen sind wenig überraschend. Nach dem Boom der vergangenen Jahre wird für 2019 eine Abschwächung vorhergesagt. »Die USA sind einige Zeit über Trend gewachsen, und 2019 wird das Wachstum voraussichtlich unter Trend fallen«, schreibt eine Großbank gemäß der Logik: Was hoch fliegt, muss wieder runterkommen. »Mean-Reversion-Effekt«, heißt dafür der Fachbegriff, die Annäherung des Wachstums an den historischen Mittelwert.
Eine Rezession wird derzeit nicht erwartet - aber auch nicht ausgeschlossen. Auch stärkeres oder schwächeres Wachstum sind möglich. Diese Möglichkeiten beziffern Ökonomen gerne mit Eintrittswahrscheinlichkeiten nach dem Muster: 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für ein Wachstum von 2,0 Prozent, 40 Prozent für 1,0 Prozent und 10 Prozent für Rezession. Mit Hilfe von Zahlen wird die Unklarheit in scheinbare Exaktheit verwandelt. »50 Prozent« klingt besser als »Kann gut sein« und »10 Prozent« besser als »Unwahrscheinlich«. Mathematik verströmt Autorität und bringt Zweifler zum Schweigen. Der Kapitalismus ist ausgerechnet und unter Kontrolle. Kein Grund zur Aufregung.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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