Mehr Rechte, weniger Recht

Im zurückliegenden Jahr wurden in vielen EU-Ländern das Asylrecht beschnitten und restriktive Regeln für Migranten beschlossen.

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 9 Min.

Es ist ein Heiligabend, wie er »passender« nicht hätte sein können im Jahr 2018: 32 von der »Sea-Watch 3« aus Seenot gerettete Menschen finden tagelang kein einziges EU-Land, das bereit wäre, sie aufzunehmen. Wie schon so oft im zurückliegenden Jahr erleben die Geretteten eine Odyssee mit offenem Ende - und Europa zieht sich in die Weihnachtsfeiertage zurück. Fast zeitgleich wird der Baubeginn eines internationalen Friedhofs für im Mittelmeer ertrunkene Migranten im süditalienischen Tarsia vermeldet.

Kaum ein Thema hat, neben dem Brexit, die Europäische Union 2018 so sehr beschäftigt wie die Migration. Im Juni führte der Streit zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel um eine »europäische Lösung« die deutsche Regierung gar an den Rande des Kollapses. Es ging dabei im Kern um den Erhalt der innereuropäischen Bewegungsfreiheit, um Migranten ging es hingegen kaum. Am Ende herrschte dann wieder traute Einigkeit, ein wenig zumindest: Nahezu alle, sowohl in der deutschen Regierung als auch in der EU, wollen die Zahlen der nach Europa kommenden Migranten senken beziehungsweise stärker kontrollieren, wer da kommt - und schneller abschieben.

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Beim EU-Gipfel im September wurde die engere Kooperation mit nordafrikanischen »Partnern« wie dem Al-Sisi-Regime in Ägypten bei der Zurückhaltung von Migranten von den EU-Staats- und Regierungschefs als Ziel ausgegeben. Ebenfalls einig war man sich bei der Aufrüstung der EU-Grenzschutzagentur von 1500 auf mehr als 10.000 Mitarbeiter, auch wenn diese Anfang Dezember von den EU-Innenministern erst einmal von Ende 2020 auf 2027 verschoben wurde. Beschlossen wurde bereits beim sommerlichen Sondergipfel auch die Einrichtung »kontrollierter Zentren«, also geschlossener Massenlager für Migranten. An anderer Stelle ist die EU vom Streit gelähmt: Gegenüber den Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, die im Rahmen der Umverteilung innerhalb der EU keine Menschen aufnehmen wollen, hat die Kommission letztlich klein beigegeben. Und die groß angekündigte Reform der Dublin-Verordnung ist bislang ebenfalls gescheitert.

Dies alles geschieht vor dem Hintergrund, dass die Zahl derjenigen, die es nach Europa schaffen, im Vergleich zu 2015 und 2016 stark gesunken ist. Zudem haben sich die Migrationsrouten verschoben - vor allem von Italien nach Spanien, das inzwischen der wichtigste Ankunftsort für Migranten aus Afrika ist. Ein Grund für die seit 2015 gesunkene Zahl ist der - aus Sicht seiner Architekten bewährte - EU-Türkei-Deal, der im März 2016 unterzeichnet worden war. Europa setzt auf das türkische Regime, das seither effizient, wenn auch nicht vollständig, Menschen an der Überfahrt nach Griechenland hindert. Für jene wiederum, die sich in ein Boot setzen, um die Ägäis oder das Mittelmeer zu durchqueren, ist es gefährlicher geworden. Denn besonders seit im Juni in Italien die neue Rechtsregierung aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung die Arbeit aufgenommen hat, steht die private Seenotrettung unter extremem Druck und hat mit Kriminalisierung zu kämpfen.

Auf der anderen Seite des Kontinents wiederum, im Südosten und auf den griechischen Inseln, leben noch immer etliche, die auf der 2015 so berühmt gewordenen »Balkanroute« steckengeblieben sind. Allein mehrere tausend Menschen befänden sich, so Pro Asyl, »im Norden Bosniens, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen (...) leben und auf die Gelegenheit warten, nach Kroatien und von dort aus in andere EU-Staaten zu gelangen«.

Während so die EU im zurückliegenden Jahr beklemmend eindrucksvoll ihre ethische Volatilität unter Beweis stellte, wurden - zudem - in zahlreichen Mitgliedsstaaten der Union das Asylrecht geschleift und restriktivere Regeln für Migranten eingeführt.

Dänemark

Seit vielen Jahren schon feiert sich die dänische Regierung selbst für immer neue Beschneidungen von Asyl- und Ausländerrecht. Die 50. Verschärfung des Ausländerrechts bedachte Dänemarks Integrationsministerin Inger Støjberg im März 2017 mit einem Selfie, auf dem sie eine Torte in den Händen hielt, verziert mit einer »50« aus Zuckerguss.

Inzwischen hat die rechtsliberale Regierung, die von der rechten Danske Folkeparti toleriert wird, die 100 »geschafft«, wie das Integrationsministerium auf seiner Webseite stolz dokumentiert. Zuletzt wurde, in der Sache auch von den oppositionellen Sozialdemokraten unterstützt, Anfang Dezember im Folketing ein Gesetzespaket beschlossen, mit dem Dänemark offiziell die Abkehr vom Paradigma der Integration vollzieht. Diese ist nun nicht mehr Ziel der dänischen Ausländer- und Asylpolitik – stattdessen ist die Politik ganz auf einen temporären Aufenthalt ausgerichtet. Beschlossen wurde unter anderem die Kürzung des Integrationsgeldes. Auch sollen abgelehnte Asylbewerber ab 2021 auf der sieben Hektar kleinen Ostseeinsel Lindholm untergebracht werden.

Auf den Weg gebracht wurde im zurückliegenden Jahr zudem das »Ghetto-Gesetz«, mit dem die Regierung migrantische Stadtviertel bekämpfen und bis 2030 komplett abgeschafft haben will und das 2019 in Kraft tritt. Der Titel des entsprechenden, im März vorgestellten »Ghettoplans« von Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen lautet: »Für ein Dänemark ohne Parallelgesellschaften. Keine Ghettos mehr bis 2030.« Ein Ghetto ist demnach ein Stadtviertel, in dem mindestens 50 Prozent der Bewohner aus »nicht-westlichen Ländern« stammen, die Arbeitslosigkeit höher als 40 Prozent liegt und in dem die Kriminalitätsrate höher ist als anderswo im Land. In solchen Stadtvierteln wird künftig eine Kitapflicht gelten – und eine Art Extra-Justiz, nach der einige Delikte doppelt so hart bestraft werden können wie in anderen Wohngegenden. Wie die offizielle Abkehr von dem Ziel der Integration mit dem »Kampf gegen Parallelgesellschaften« zusammenpasst, bleibt das Geheimnis der dänischen Regierung.

Österreich

Die seit einem Jahr amtierende österreichische Rechtsregierung aus ÖVP (Schwesterpartei der CDU/CSU) und rechtsextremer FPÖ hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie Abschiebungen forcieren und die Regeln für Migranten in Österreich ändern will. Und sie hat Wort gehalten: Seit dem 1. September 2018 kann unter anderem Bargeld in Höhe von 840 Euro pro Person bei der Asylantragstellung beschlagnahmt werden. Neu ist auch, wie die Asylkoordination Österreich berichtet, »ein automatisches Aberkennungsverfahren, wenn Asylberechtigte einen Reisepass ihres Herkunftslandes beantragen oder in dieses gereist sind«. Die Wartepflicht für die Verleihung der Staatsbürgerschaft wurde von sechs auf zehn Jahre angehoben. Im April 2019 soll darüber hinaus ein Gesetz in Kraft treten, das Ausländer gegenüber österreichischen Staatsbürgern benachteiligt. Es sieht vor, dass für Ausländer 300 von 863 Euro Mindestsicherung an Bedingungen wie Sprachkenntnisse geknüpft sind – und gekürzt werden können. Ebenfalls beschlossen wurde, ab Januar 2019 das Kindergeld für EU-Ausländer in Höhe von insgesamt mehr als 100 Millionen Euro jährlich zu kürzen. Dies beträfe vor allem Arbeitsmigranten aus Ungarn, Polen, der Slowakei und Rumänien. EU-Kommission und Europäisches Parlament haben gegen diese Pläne protestiert, Österreich droht deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren.

Anfang Juni, zu Beginn der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) während eines Besuches bei Kommissionschef Jean-Claude Juncker in Brüssel über seine Politik: »Sie bekommen Schutz, aber nicht das bessere Leben in Österreich, Deutschland oder Schweden.« Während des sommerlichen Migrationsknatsches rund um den EU-Sondergipfel stellte Kurz sich an die Seite Horst Seehofers und schwärmte ganz geschichtsvergessen von einer »Achse der Willigen«, also jener, die dafür seien, an den Landesgrenzen innerhalb der EU Migranten abweisen zu können, die aber ohnehin, so Kurz, am besten außerhalb des Kontinents auf »Anlandeplattformen« festzuhalten seien.

Italien

Im Juni trat die neue italienische Rechtsregierung zusammen, deren Aushängeschild der Rechtsextremist und Innenminister Matteo Salvini von der Lega ist. Die Koalition machte sich sofort ans Werk, reduzierte einerseits in kürzester Zeit die Zahl der in Italien ankommenden Migranten drastisch, indem Schiffen das Anlegen untersagt sowie Seenotretter verfolgt werden, und beschnitt gleichzeitig die Rechte von bereits im Land lebenden Ausländern. Begleitet wurde das Ganze von einer Reihe rassistischer Übergriffe, zu denen sich die Täter offenbar von der neuen Regierung geradezu ermuntert fühlten.

Im November dann wurde ein »Dekret für Einwanderung und Sicherheit« im Parlament verabschiedet, von dem der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte sagt, es verletze internationale Menschenrechtsprinzipien grundlegend. Salvini nennt das Gesetz indes eine »Revolution« in Sachen »Sicherheit und Ordnung«.

Das Dekret sieht unter anderem vor, dass das humanitäre Bleiberecht fast gänzlich abgeschafft wird. Bislang erhielten etwas mehr als ein Viertel der Asylbewerber in Italien diesen Status, der ihnen den legalen Aufenthalt im Land ermöglichte. Die Zahl derer, die einen ordentlichen Asylbescheid erhielten, liegt weit darunter. Die Befürchtung von Menschenrechtlern ist, dass durch die Aberkennung des Status nun die Zahl der Illegalen (und damit rechtlosen) Migranten stark zunehmen wird. Zudem sollen mit dem neuen Dekret Abschiebungen erleichtert werden, die zulässige Dauer der Unterbringung in sogenannten Abschiebezentren wurde dafür von 90 auf 180 Tage verdoppelt. Abgeschafft wurden auch kommunale Asylzentren, die – wie in der international für ihre Integrationsarbeit bekannt gewordenen Kleinstadt Riace – der Regierung ein Dorn im Auge sind. Aus Riace wurden schon im Oktober 200 gut integrierte Migranten zwangsumgesiedelt. Sie müssen nun in Flüchtlingsunterkünften leben. Die Anordnung für die Umsiedelung hatte das italienische Innenministerium erteilt.

Frankreich

Bereits im Frühjahr 2018 wurde auch in der französischen Hauptstadt Paris ein Gesetzespaket zur Verschärfung des Asyl- und Einwanderungsrechts durch die Nationalversammlung gebracht und später vom Senat, der zweiten Kammer des französischen Parlaments, bestätigt – trotz massiver Kritik auch aus den Reihen der Macronschen Regierungspartei La République En Marche. Einige Abgeordnete von LREM sehen mit dem Gesetz die französischen Grundrechte gefährdet. Deutliche Kritik kam auch von der linken Opposition im Parlament sowie von Menschenrechtsorganisationen.

Den neuen Regeln zufolge sollen Asylanträge in Frankreich innerhalb von sechs Monaten entschieden werden. Die Zeit, in der Asylsuchende Widerspruch gegen einen negativen Bescheid einlegen können, wurde verkürzt. Die Zeit, in der abgelehnte Asylbewerber in Abschiebehaft genommen werden dürfen, wurde gleichzeitig verdoppelt – von 45 auf 90 Tage.
Ziel des neuen Gesetzes ist es laut der Regierung, künftig strenger zwischen Flüchtlingen und »Wirtschaftsmigranten« zu unterscheiden; für erstere den Schutz zu verbessern, indem an subsidiär geschützte Menschen, denen im Heimatland Folter oder Tod drohen, Aufenthaltstitel für vier statt nur ein Jahr vergeben werden. Bei Zweiteren, den »Wirtschaftsmigranten«, soll »besser« aussortiert und effizienter abgeschoben werden – Vorbild bei der Abschiebepraxis sei, so Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Frühjahr, die Bundesrepublik Deutschland.

Als Grund für das Gesetz nannte der inzwischen zurückgetretene französische Innenminister Gérard Collomb die gestiegene Zahl an Asylanträgen im Land. 2017 waren es in Frankreich mehr als 100 000 Anträge. Während im Rest Europas die Zahlen zurückgingen, hatten sie dort im Vergleich zu 2016 zugenommen.

Eine der bislang letzten Ankündigungen betrifft ausländische Studierende: Die Studiengebühren sollen für sie von knapp unter 200 Euro auf künftig mehr als 2700 Euro jährlich angehoben werden.

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