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Die EU muss den sozialen Mindestschutz fördern
Thesen zum Entwurf für ein Europawahlprogramm der Partei DIE LINKE
In der Europapolitik gehen die Haltungen progressiver Kräfte in und außerhalb der Partei DIE LINKE mitunter weit auseinander. Der Entwurf beschreibt sinnvollerweise eine pragmatische Europapolitik jenseits von Extrempositionen. Der Ausgangspunkt ist die Grundentscheidung für eine europafreundliche, aber zugleich EU-kritische Haltung.
Was soll auf europäischer Ebene geregelt werden?
Der Entwurf verdeutlicht, dass es nicht genügt, die bestehende Architektur der EU mit sozialeren Inhalten anreichern zu wollen. Vielmehr muss ihre Architektur – das sind die Vertragsgrundlagen – selbst auf den Prüfstand. Die Leitfrage im Konkreten sollte lauten: Wo, in welchen Projekten, kann der spezifische soziale Zusatznutzen trans- und supranationaler Organe liegen? In weiten Teilen verfährt der Programmentwurf aber bisher noch durch Projektion unserer an die mitgliedstaatliche Ebene gerichteten Forderungen auf die Europäische Union.
Ihrem Inhalt mögen all diese Forderungen in Ordnung gehen. Aber wer wollte das alles wirklich auf europäischer Ebene geregelt wissen? Wollen wir, wenn wir im nationalen Rahmen eine Mehrheit für unsere Forderungen erstritten haben, wirklich warten, bis dieselben Mehrheiten in anderen EU-Mitgliedsländern vorliegen, um dann eine europäische Richtlinie verabschieden zu können, die dann national umzusetzen ist? Zudem: Nehmen wir doch einmal im Gedankenexperiment an, all das, was im Entwurf von der EU eingefordert wird, würde plötzlich wirklich auf supranationaler Ebene geregelt – mit dem Inhalt allerdings, dass unsere progressiven Lösungen durch die entsprechenden Richtlinien und Verordnungen unterbunden würden (angesichts der Kräfteverhältnisse und des Stands des Primärrechts die realistischere Option!). Würden wir die europäisch bewirkte Einengung unserer Handlungsspielräume gleichwohl als legitim erkennen und verteidigen?
Die Wucht der Binnenmarktfreiheiten eindämmen
Die im Entwurf für ein Soziales Fortschrittsprotokoll artikulierte Forderung des Europäischen Gewerkschaftsbunds, das Soziale effektiver vor der Wucht der Wirtschaftsintegration zu schützen, sollte unseres Erachtens offensiv unterstützt werden. Dazu schlagen wir vor, die Forderung nach so genannten Bereichsausnahmen zu ergänzen: Die Arbeits- und Sozialverfassungen der Mitgliedstaaten sind mittels Vertragsänderungen vom Anwendungsbereich (1) der Binnenmarktfreiheiten, (2) des europäischen Wettbewerbsrechts und (3) der makroökonomischen Korrekturverfahren, soweit diese sanktionsbewehrt sind, auszunehmen. Vom Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts sind zudem die Sektoren der öffentlichen Daseinsvorsorge auszunehmen.
Das Demokratiedefizit geht tief
Der Entwurf benennt das europäischen Demokratiedefizit korrekt, will es aber durch (1) mehr EP-Rechte, (2) europäische Referenden und (3) Bekämpfung des Lobbyings gegenüber der europäischen Gesetzgebung beheben. Das europäische Demokratiedefizit geht aber wesentlich tiefer. Es wurzelt in der spezifischen »Überkonstitutionalisierung« (Dieter Grimm in diesem Band) der EU, also darin, dass ein Großteil europäischer Entscheidungen das politische System der EU gar nicht erst erreicht, sondern als Verfassungsvollzug vom EuGH angeordnet wird oder sich durch Maßnahmen anderer demokratisch nicht legitimierter Organe wie der EZB vollzieht.
Und es bleibt das grundlegende Problem, dass wesentliche gesellschaftliche Voraussetzungen für Demokratie auf EU-Ebene nicht gegeben sind: eine gemeinsame politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft auf Basis einer gemeinsamen Sprache, hinreichende Gleichartigkeit der wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und politischen Bedingungen und Traditionen, letztlich die Bereitschaft der nationalen Gesellschaften und Mitgliedstaaten, die übergeordnete Geltung von EU-Entscheidungen zu akzeptieren. EU-Vereinheitlichung trotzdem immer weiter voranzutreiben, läuft Gefahr, Demokratie aushöhlen statt zu stärken.
Ein Schlüssel zur Verteidigung demokratischer Prozeduren liegt daher darin, das Subsidiaritätsprinzip auch und gerade von links ernst zu nehmen. Die europäischen Organe sollten handeln, wo es genuin transnationale Probleme zu lösen gibt; und wo es progressiven ökonomischen, sozialen, ökologischen und friedenspolitischen Zwecken dient. Wo das nicht der Fall ist, sollte von der Forderung nach weiteren Verlagerungen Abstand genommen werden. Und wo die entsprechenden Befugnisse bereits bei der EU liegen, darf auch der Ruf nach Rückverlagerungen (»selektiver Rückbau«) kein Tabu sein. Das gilt namentlich auch für die Aufrüstungsbestrebungen im Rahmen der PESCO (ständige strukturierte Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik).
Ein soziales Kernprojekt für die EU
Das schwerwiegendste soziale Defizit in der EU (nicht: der EU, die europäischen Organe haben das Defizit nicht verursacht) besteht in der hohen Anzahl von (fast immer: ärmeren) EU-Ländern ohne sozialen Mindestschutz. Wir schlagen vor, dieses Defizit und Wege zu seiner Behebung in das Zentrum zu rücken. Die EU sollte erhebliche Mittel in den Strukturfonds freimachen, sie zusätzlich aufstocken (statt sie, wie derzeit vorgesehen, zu kürzen) und mit diesen den Aufbau sozialer Grundsicherungen in den ärmeren EU-Ländern unterstützen. Dieses Projekt verknüpft die Definition von Mindeststandards mit transnationalen Hilfen. Bei dem Projekt wäre sichergestellt, dass die Transfers von reich zu arm verlaufen würden. Zudem wäre es ein Beitrag zur Bekämpfung der Ursachen von Armutsmigration. Mit den Westbalkanländern stehen EU-Beitrittskandidaten vor der Tür, die noch einmal deutlich ärmer sind als Bulgarien und Rumänien.
Martin Höpner ist Politikwissenschaftler aus Köln. Ralf Krämer ist Gewerkschaftssekretär aus Berlin und Mitglied des LINKE-Parteivorstands. Beide sind auch Unterstützer von »Aufstehen«.
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