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Von Piloten lernen
Streitpunkt Videobeweis: Der deutsche Fußball unternimmt viel, um den Einsatz der Technik zu professionalisieren und somit auch die Akzeptanz für Schiedsrichter und Assistenten zu verbessern.
Wir haben sehr erfolgreich gearbeitet und sind gut gerüstet für die Rückrunde.« Diesen Satz könnte man bedenkenlos jedem Fußballer oder Trainer zuschreiben. Er stammt aber von Lutz Michael Fröhlich, Schiedsrichterchef beim Deutschen Fußball-Bund (DFB). Gesagt hat ihn der 61-jährige Berliner in dieser Woche, nach der Rückkehr aus Portugal. In Lagos, am Südwestzipfel des Landes, hatten Fröhlich und 73 Referees ihr Wintertrainingslager abgehalten. Die Unparteiischen müssen schließlich ebenso dem Tempo des Spiels folgen können. Und wie die Sportler hegt auch Fröhlich nach intensiver Vorbereitung die Hoffnung auf Besserung: »Jetzt geht es darum, all die positiven Impulse in den Spielen umzusetzen.«
Ja, es geht schon wieder los - an diesem Wochenende mit dem ersten Rückrundenspieltag der 1. Bundesliga. Das darf doch wohl nicht wahr sein - wird es dann landauf, landab wieder heißen. Denn neben Sieg und Niederlage rückt auch eins der meistdiskutierten Fußballthemen wieder in den Fokus - der Videobeweis, und damit auch die Schiedsrichter.
Die Technik soll mehr Gerechtigkeit in den Stadien garantieren. So der Ursprungsgedanke. Auslöser war eine Partie am 18. November 2009: Im Playoff-Rückspiel der WM-Qualifikation erzielte der französische Verteidiger William Gallas in der Verlängerung das erlösende 1:1 gegen Irland. Die Vorarbeit durch Thierry Henry allerdings war regelwidrig, das offensichtliche Handspiel des Stürmers sah die ganze Welt am Bildschirm, nur Schiedsrichter Martin Hansson nicht. Die Folgen der Tatsachenentscheidung des Schweden: Frankreich fuhr zur Weltmeisterschaft 2010 nach Südafrika. Und der irische Fußballverband drohte mit einer Klage, die die FIFA durch eine Zahlung von fünf Millionen Euro abwenden konnte. Rund achteinhalb Jahre später, am 3. März 2018, beschlossen die Wächter des Weltfußballs vom International Football Association Board den Videobeweis in Person des Video Assistent Referee (Videoassistent) nach mehrjähriger Testphase ins Regelwerk aufzunehmen.
Gerechtigkeit? »Das ist ein Witz … der ganze Scheiß!« Kurz vor der Winterpause wütete Hannovers Manager Horst Heldt gegen den Videobeweis. Ähnliche Äußerungen anderer Manager, Trainer oder Spieler ließen sich mühelos auflisten. Ein Klagelied über, vermeintliche oder offensichtliche, Benachteiligungen können beispielsweise die Kölner singen, aus der vergangenen Spielzeit, ihrer Abstiegssaison, als der Videobeweis mit einjähriger Testphase in der 1. Bundesliga eingeführt wurde.
Weniger Fehlentscheidungen, weniger Diskussionen - das hatten sich die Verantwortlichen von der Technik versprochen. 40 Fehlentscheidungen der Schiedsrichter seien in dieser Bundesliga-Hinrunde durch den Videobeweis korrigiert worden, berichtete DFB-Schiedsrichterchef Fröhlich. Die Diskussionen aber haben zugenommen. Weil mit dem Videobeweis die Erwartungen gestiegen sind. Entsprechend größer ist das Unverständnis für Fehlentscheidungen. Dabei hat sich am grundlegenden Problem gar nichts geändert: Es ist immer noch der Mensch, der die Fehler macht. Ob nun das Schiedsrichterteam im Stadion oder der Videoassistent und dessen Assistent sowie der Operator, der für die Bildauswahl strittiger Szenen zuständig ist, und dessen Assistent in der Kölner Zentrale. Hinzugekommen sind zwei neue Probleme. Die Technik, die ebenfalls nicht immer fehlerfrei funktioniert, und das Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik.
Die Verantwortlichen im deutschen Profifußball versuchen viel, um die Abläufe zu professionalisieren und somit auch die öffentliche Akzeptanz für Schiedsrichter und deren Assistenten zu erhöhen. Und so wurde im Trainingslager an der Algarve nicht nur die Fitness der Unparteiischen verbessert. Regeltechnisch sei ebenso viel gearbeitet worden, versicherte Lutz Michael Fröhlich. Auch hier findet sich die Parallele zu den Fußballern: Selbst die grundlegendsten Sachen müssen ständig wiederholt werden. Für die Schiedsrichter und all ihre Assistenten heißt das im Falle des Videobeweises: Verinnerlichen, dass der Videoassistent in Köln nur im Fall einer klaren und offensichtlichen Fehlentscheidung eingreifen darf. Oder wenn der Unparteiische auf dem Platz eine strafbare Aktion nicht wahrgenommen hat. Und ganz generell: Der Videoassistent darf nur in vier, klar definierten Situationen eingreifen: Torerzielung, Strafstoß, Platzverweis, Spielerverwechslung.
Diese Vorgaben wurden nicht immer berücksichtigt, manchmal blieben notwendige Interventionen aus Köln aus, manches Mal sorgten sie unrechtmäßig für eine Unterbrechung. Zudem wurden gleiche Situationen von Spiel zu Spiel unterschiedlich bewertet. Das erklärt den teilweise sehr heftig formulierten Unmut der Betroffenen. Jochen Drees verspricht hier wie sein Kollege Lutz Michael Fröhlich in Zukunft Besserung. Der 48-jährige ehemalige Schiedsrichter ist beim DFB »Projektleiter Videobeweis«. Selbstkritisch sprach er in dieser Woche in Berlin über Fehler der Anfangszeit und präsentierte dazu Fallbeispiele per Video aus den letzten anderthalb Bundesligajahren. »Wir müssen uns und das gesamt System weiter professionalisieren«, sagt er. Ein ganz wichtiger Punkt dabei: die Kommunikation zwischen Schiedsrichter und Videoassistent - eine Fehlerquelle, die zu Verwirrung, unnötig langen Spielunterbrechungen und falschen Entscheidungen führen kann. Experten sollen Abhilfe schaffen. Seit Monaten begleiten Flugpiloten die Zusammenarbeit der Schiedsrichter mit der Videozentrale in Köln. Das Ziel: eine kurze, klare Kommandosprache. Zudem will Drees in Zukunft mehr auf spezialisierte Videoassistenten setzen.
Drees wirbt natürlich auch für den Videobeweis und unterstreicht dabei die Bemühungen für einen gerechteren Sport im eigenen Land. »In der Bundesliga arbeiten wir mit 21 Kameras, in Holland und Portugal sind es nur acht.« Und er verweist auf einen weiteren Vorteil: faireres Spielerverhalten. So seien in der italienischen Liga Simulationen um mehr als 30 Prozent zurückgegangen, ähnlich verhalte es sich bei Reklamationen.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Dass die Akzeptanz des Videobeweises langsam steigt, zeigt eine Umfrage des »kicker« nach der Hinrunde: 70 Prozent der Profis befürworteten den Einsatz der Technik. Vor einem halben Jahr waren es 57 Prozent. Schwerer wird es, die grundsätzlichen Gegner zu überzeugen. Oft sind es aktive Fans. Sie vermissen die Unmittelbarkeit des Stadionerlebnisses. Die durchaus verständliche Kritik: Wenn der Fußball nicht mehr von seinen Emotionen lebt, wenn Jubel und Enttäuschung erst kontrolliert werden müssen, ist es ein anderer Sport. Menschen mit dieser Meinung werden zu Unrecht als Berufsquerulanten beschimpft. Denn: Proteste gegen die Torlinientechnologie gibt es in den Fankurven nicht. Diese Technik erlebt ihr viertes Bundesligajahr. Sie funktioniert geräuschlos, beeinflusst nicht das Spiel und dessen Rhythmus - und bringt Gerechtigkeit.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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