Wer bin ich und wie viele?

Fragen der Identität und Klassenzugehörigkeit: Bei den Fantasyfilmfest White Nights wurden neue Thriller gezeigt

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist ja alles x-fach parodiert, persifliert und zu Tode zitiert worden: die Duschszene aus Hitchcocks »Psycho«, Romeros Zombies, die Kettensäge, »Freitag, der 13.«, der »Halloween«-Komplex, Freddy Krueger, selbst die selbstreferenzielle »Scream«-Filmreihe der späten 90er Jahre. Die »Scary-Movie«-Persiflagen (2000 - 2013), so mutmaßte man seinerzeit, seien das vorläufige Ende der Verwertungskette: durch keine konsistente Handlung mehr zusammengehaltene und eher alberne als komische Zitat-Revuen, bei deren Betrachtung die Zielgruppe der Pizza und »Doritos« futternden 16-Jährigen ihr Vergnügen aus dem Wiedererkennen des schon gesehenen Materials und dem lustvollen Wiederholen und kollektiven Abfeiern der eigenen unreflektierten Horror-Rezeption bezieht, einschließlich dem zwanghaften und zur Bewältigung der eigenen Angst praktizierten Lachen über menschliche Körpersekrete und Blähungen.

Und doch entsteht immer wieder eine Slasher-/Zombie-/Teenie-Horror-Persiflage, die noch ein wenig plumper daherkommt: »Blood Fest« (USA 2018) etwa ist die in cleaner Fernsehserienoptik gehaltene C-Film-Variante einer solchen ideenfreien, schematischen Standardpersiflage, in der ein paar Jugendliche durch eine Art Horror-Themen-Vergnügungspark geschleust werden, ohne dass es zu einem Witz oder einer Standardsituation käme, die man nicht schon anderswo origineller gesehen hätte. »Hier gibt es keine Zombies«, ruft der Ungläubige und marodiert, auf den Fake-Gräbern stehend, herum, um den anderen zu zeigen, dass die Grabsteine aus Plastik und sie alle Teil einer Vergnügungspark-Inszenierung sind. »Hm, das ist der Moment, in dem jetzt eigentlich etwas passieren müsste«, kommentiert ein anderer. Und prompt schnellt der Arm eines Untoten aus der Erde hervor, um dem Friedhofsschänder die Hoden zu quetschen. Was haben wir gelacht.

Doch bediente man am Wochenende nicht nur pflichtschuldig die Bedürfnisse des einschlägigen Geek-Publikums. Auch dieses mal boten die alljährlich zu Jahresbeginn in mehreren deutschen Städten stattfindenden Fantasyfilmfest White Nights eine Hand voll Filme aus den Genres Thriller/Horror an, die auf originelle Weise wesentliche Fragen der menschlichen Existenz thematisieren, leider aber nicht in den deutschen Kinos zu sehen sein werden, wie beispielsweise das Kammerspiel »Keepers« (Großbritannien 2018), in dem es um Gier, Lüge und Verrat geht: Drei Männer (zwei Leuchtturmwärter und ihr Lehrling), die auf einer kleinen Felseninsel vor der schottischen Küste ihre Arbeit verrichten, machen eine unerwartete Entdeckung, die unter ihnen zu Meinungsverschiedenheiten und gegenseitigem Misstrauen führt und schließlich einen mit alttestamentarischer Wucht ausgetragenen Kampf heraufbeschwört, dessen Beginn zunächst nur von ein paar toten Möwen markiert wird.

In anderen, ebenso eher stillen und unaufgeregten Filmen ging es um Fragen der Identität: Was macht einen Menschen zum Individuum? Was weiß man über einen Menschen, den man zu kennen glaubt, wirklich? Kann jemand existieren und gleichzeitig nicht existieren? Und woher weiß man, dass etwas real war, wenn es verschwunden ist und keinerlei Anzeichen seiner früheren Existenz zurückließ?

In dem dystopischen SF-Thriller »Jonathan« (USA 2018), einer in unsere moderne, aufgeräumte Büro- und Technikwelt verlegte Jekyll & Hyde-Variante, in ihrer Ästhetik stark an eine »Black-Mirror«-Folge erinnernd, steht im Mittelpunkt ein Brüderpaar, bei dem die Frage »Wer bin ich und wenn ja, wie viele« klar zu beantworten ist: Sie sind zwei, allerdings sind Jonathan und John gezwungen, sich ein und denselben Körper zu teilen. Jeder der beiden darf den Körper benutzen, wenn der jeweils andere gerade schläft. Während John nachts als Wachmann tätig ist und eine eher unstetes Dasein führt, arbeitet der in seiner nahezu klinisch sauber anmutenden Wohnung Jonathan tagsüber an seiner Vorzeigekarriere als aufstrebender Jungarchitekt. So (und mithilfe eines medizinischen Hightech-Gimmicks, das in Johns/Jonathans Hirn implantiert wurde), das hat ihre Ärztin in jahrelanger Forschungsarbeit ausgetüftelt, ist es jedem der beiden temporär möglich, ein einigermaßen stabiles Leben zu führen. Allerdings ist John eher der gesellige Typ, wohingegen der strebsame Jonathan den Kontakt zu seiner Mitwelt aufs Notwendigste zu beschränken sucht. Und darf der eine Sex haben, wo dadurch doch zwangsläufig auch der Körper des Bruders in Mitleidenschaft gezogen wird? Da können Konflikte nicht ausbleiben.

In dem vertrackt-verrätselten südkoreanischen Slow-Motion-Thriller »Burning« wiederum verliebt sich der junge Bauernsohn Jong-su in seine ehemalige Mitschülerin Hae-mi, beide beginnen ein erotisches Verhältnis. Jong-su erhält von ihr, als sie verreist, den Auftrag, regelmäßig ihre Katze in ihrem Apartment zu füttern, was dieser auch tut. Bei ihrer Rückkehr präsentiert Hae-mi, als Jong-su sie am Flughafen abholt, diesem plötzlich ihren neuen Bekannten und Liebhaber Ben, einen offenbar überaus wohlhabenden Porschefahrer und Lebemann, der auf eigentümliche Art creepy und unergründlich wirkt. »Ich arbeite nicht, ich spiele«, antwortet Ben auf die von Jong-su angedeutete Frage, wovon er denn lebe.

Der vieldeutige Mystery-Thriller »Burning«, der auch als filmische Meditation über Klassenzugehörigkeit und die Ortlosigkeit des modernen Menschen verstanden werden kann, dürfte der am bedächtigsten erzählte Film unter den gezeigten sein: Zwei Stunden Zeit nimmt er sich, um Szenen aus dem Leben der drei Protagonisten aneinanderzureihen und dem Zuschauer in kleinen Dosen mehr von ihnen zu offenbaren, ohne dass dieser die Figuren vollständig zu enträtseln in der Lage wäre. Doch - eines Nachts verschwindet Hae-mi spurlos und ohne Ankündigung - erst in der letzten halben Stunde bricht sich der unterschwellig vorhandene Konflikt zwischen den beiden Männern langsam Bahn. Ein Film wie ein faszinierendes Geheimnis über den Menschen, das am Ende eines bleibt.

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