- Kultur
- Theaterstück Galilei
In der pestmodernen Welt
Immer wieder Jürgen Holtz! Als Brechts und Castorfs Galilei am Berliner Ensemble
Franks Vater? »Tot.« Franks Mutter? »Tot.« Und Frank? »Auch tot.« So lässt Castorf in seiner neuesten Inszenierung kalauern und tanzt also gleichsam auf dem eigenen Grab. Als sähe er sein Theater im Abgesang, sein Werk in der Endschleife. Selbstironie - und dann tanzen die altbekannten Gespenster: wuchernder Text, unbekümmertes Chaos, dröhnender Klamauk. Treue zum Credo: kein Denkstoff, den man nicht noch bedrängender komponieren, aber auch kein Klamauk, dessen Niveau man nicht noch weiter senken kann. Diesmal: »Galileo Galilei«, Zusatz: »von und nach Bertolt Brecht«, Untertitel: »Das Theater und die Pest«. Ein starkes Ereignis, versehen mit den schier unvermeidlichen Dünnungen und Dehnungen der Castorf-Ästhetik.
Ein sechsstündiger Abend am Berliner Ensemble (Bühne: Aleksandar Denic, Kostüme: Adriana Braga Peretzki). Brecht, gekoppelt mit Antonin Artaud. Das Theater der Grausamkeit als Antwort gegen das Grausame der Wirklichkeit: deren zuchtsüchtige Ordnung, deren Druckkammern aus Sitte und Proporz, deren dressierende Sauberkeit. Brecht: Aufbau - und damit Feier neuer ethischer Würde; Artaud: Zerstörung - und damit Feier des Würdelosen. Brecht: Lob der Helle, die aufklärt; Artaud: Lob des Dunkels, das der Urgrund unserer Seele bleibt. Die Pest als Sinnbild dafür, dass jeder Modernisierung eine Hölle und das totale Verderben beigesellt bleiben. So leben auch wir Postmodernen in einer Pestmoderne.
Jürgen Holtz, der 86-Jährige, als der 46-jährige Galilei: am Anfang nackt, unterm Wasserschwall der Dusche. Da zeigt sich eine hautnahe Offenheit, in die nichts Falsches mehr eindringt. Das Spiel dieses Alten ist nicht auf der Flucht vor den eigenen Schamteilen. Diesen Schauspieler sehen und an das härteste Gebot der Bibel denken: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder! Der Greis so, als begänne Unschuld just dort, wo das Leben Endpunkte setzt. Die Todesahnung, dass man etwas verlassen wird, ist dem Augenblick ähnlich, da man etwas erwartet. Wie Holtz die Arme in den Existenzjubel hebt! Das zerfaltete Gesicht eine Clownsmaske, lachend aufgeklappt wie das Antlitz des klassischen Idioten, der allen klugen Narren vorausging. Alles Reden ist wie der Wunsch, ein Schweigen zu werden - das kann man nur mit Freude. Souffleuse Christine Schönfeld in vertraulicher Hörweite, grandios allein schon, wie Holtz damit umgeht: souverän ruhig, Pausen mit Stille füllend, die ihre eigene Musikalität besitzt.
Brecht verteidigt den wissenschaftlichen Beweis gegen die Dogmen der verstockten Macht: kopernikanisches gegen ptolemäisches Weltbild. Galilei ist der Präzedenzfall für den ewigen Krieg zwischen Aufrichtigkeit und List, Widerstand und Anpassung. Die Erde dreht sich um die Sonne - der Forscher widerrief vor dem Klerus, was er als wahr erkannt hatte. Ein Charakterloser? Beginnt Charakter erst dann, wenn man ihn in Lebensgefahr bringen muss?
Brecht starb 1956, während der Proben zum »Galilei« am Berliner Ensemble - dem Stück, das ihn nie losließ, weil es ihm zum persönlichsten Stück geworden war. Unter jener falschen Sonne Stalin, um die sich alles zu drehen hatte, als wäre die Lüge eine ewige Wahrheit. Brecht wurde in seiner Dramatik ungern zu persönlich, daher schien es, als habe er den Stoff gegen dessen Tiefenschicht inszenieren wollen - die ihn selber betraf. Jedenfalls hat Heiner Müller es so erzählt. Auf den Proben habe sich Brecht mit dem Hauptdarsteller Ernst Busch gestritten, ihm eingetrichtert: »Busch, spielen Sie einen Verbrecher! Es ist ein Krimineller, der die Wahrheit weiß und sie nicht sagt!« Darauf Busch: »Brecht, das haben Sie so eindeutig nicht geschrieben.«
Die Inszenierung Castorfs - zu beträchtlichen Teilen wieder ein Videofilm - klebt Pestbeulen auf Körper, die unter Blut und Brüllen aufgebissen werden. Sie bedient mit böser Lust das Streckbett der Inquisition. Sie frisst Scheiße. Sie schickt eine gesichtsverschleierte Muslima auf die Szene, beinfrei, mit schwarzen Strapsen. Die Inszenierung läutet schrille Kirchenglocken und prozessiert in den Spitzmützen der Ketzer über die Bühne. Sie bietet Galilei einen Apfel an und zischelt dazu wie die Schlange im Paradies. Erkenntnis? Längst befleckt, der Forschergeist: Dem Atom etwa pflanzten wir den schrecklichsten der Janusköpfe auf.
Und gesellschaftlich? Weltbilder verbraucht, Erlöserprogramme verbrannt - wir sind Karikaturen unseres weltverändernden Anspruchs geworden. Gewissheiten sprengen sich von uns ab wie Meteoriten, zerbröseln ins Unendliche. Wie nur schafft man es, nicht immer bloß auf Knien durch die Verhältnisse zu rutschen? Heiner Müller: »Der aufrechte Gang - er ist nicht umweltfreundlich - hat die Menschheit viel gekostet, und vielleicht, wenn ihn keine Revolution aufhält, kennt er nur noch ein Ziel: das Nichts.«
Jürgen Holtz: präsent, auch wenn er eine lange Auftrittspause hat: Ein großer Letzter, dessen Lachen wie ein Geröllrutsch ins Unwegsame sein kann. So oft war er der Glatzgnatzkopf. Und lebte eine kantige, konfliktglühende Laufbahn. Dresen, Besson, Schleef, Tragelehn, Müller, Gosch, Stein, Peymann. Er kräht Sprache, schnarrt sie. Die Augen wie Knöpfe, die seinen Blick ans Universum nähen, dorthin, wo Weite winkt. Augen aber auch wie Knöpfe, die fest an die Zwangsjacke des Daseins genäht sind. Aus Sätzen, die er sagt, schaut er mitunter heraus wie aus einem Kerkerfenster. Gleichsam ganz wild in einem Weichsein, das der Ermattung nicht gram ist, sondern ihr dafür dankt, auch die unabwendbare Müdigkeit sinnlich zu erleben.
Zwischen Palazzo, Bauzaun, großem hölzernen Teleskop und Zeltdach schickt Castorf lange schöne Beine in die Spur, er witzelt über Metoo, er klebt die US-Flagge auf eine Kaffeetasse, er bittet zum Tanz mit schwarzschädligen Pestleichen, und über der Szene gleißt ein kleines Neon-Kruzifix. Ein neunköpfiges Ensemble, weit mehr Rollen. Die Französin Jeanne Balibar, mit kahlem Kopf, stets nah an der Nacktheit, spricht auch Texte Galileis, sie ist die geradezu lasziv Leidende am Wahrheitsverbot. Ihrer Schönheit gestattet sie den Furor der Kämpfenden wie auch den Anwurf einer im zähen Widerstand Ausgemergelten - sie hat nervenden Mut zu einer expressiven Monotonie, in deren Singsang Sirene und Kreissäge Freundschaft schließen. Wenn sie beim Widerruf Galileis zusammensinkt, stürzt kein Mensch, sondern eine Welt.
Andreas Döhler an ihrer Seite ist der Unsichere, Furchtsame, er ist der in die Furchen des Alltags Gepresste, er ist mit seinem heiseren Timbre und seinem hemmungslosen Weinen jenes Wesen der kleinen Träume, dem Trost wichtiger bleibt als Aufklärung. Der um ein bisschen Frieden bittet, weil der große Frieden nie kommen wird. Wolfgang Michael und Aljoscha Stadelmann, wortmalmend und berlinschnauzig, verwalten das Rüpel-Ressort. Papst-Pose und Zuhälter-Zoten verbünden sich mit Folterknecht-Eifer. Die öffentliche Meinung als Dreckschleuder - das ist so blöd und dreckig, wie es blöd und dreckig sein soll.
Galilei ist einer, an dem sich das herrschende System rächt. Ab und zu ist die Rede von Gott. Castorf erzählt, dass man letztlich lieber mit Gott reden sollte, weniger mit Menschen. Gott rächt sich nicht. »Himmel abgeschafft!«, hatte Galilei gejubelt. Aber unterm Himmel, der von Demut gesäubert ist, wurde der Mensch oft genug kalt und wahnsinnig.
Jürgen Holtz, immer wieder er! In seinen Auftritten schwingt eine Dimension des Unheimlichen mit. Gedanken können in diesem Gesicht wie Tumore wachsen. Oder kichern, als hieße das Stück »Nathan, der Leise« - denn große Kunst ist auch da, wo sie aufschreit, ein scheuebewusstes Seufzen. Gegen die Kaltschnauzen dieser Welt. Er wirkt durchsichtig wie Libellenflügel: Er schillert. Und hat alles Klug-Tun überwunden - Höchstform der Weisheit. Jetzt nimmt Galilei seinen Krückstock zwischen die Zähne; ein bisschen will die Libelle Löwe bleiben. Was dich vom greisen Galilei anweht, ist das Wesentliche: Der Mensch, sich hinausdenkend ins Große, bleibt doch gefesselt an die Zeit seines verwitternden Körpers, die nur Frist ist. Noch der schwungvollste Utopist ist vergänglich, ist nur Übergangskreatur im ewigen Strom der Äonen. Ist das Kind im Korb, ausgesetzt in einer Flussmitte, die es wegträgt ins Vergessen.
Das kriegen wir halt nie in die Reihe: im Kopf die Sterne, die Beine immer schon grabnah; wir träumen Zukunft, haben aber keine. In solcher Tragödie quält sich Jürgen Holtz’ Galilei. Berührend, gemütsseidendünn, wie aus sagenhafter Ferne kommend. Weltall, Erde, Mensch. Gang ins Dunkle. »Ich muss was essen.«
Nächste Vorstellungen: 26.1., 27.1., 10.2. und 16. 2.
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