Die Anmut der Publikumsbeschimpfung

Die Literaturzeitschrift »Palmbaum« betrachtet die Sternstunden des Erfolgs

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 4 Min.
Der junge Schriftsteller als Popstar: Peter Handke bummelt 1973 über die Frankfurter Buchmesse.
Der junge Schriftsteller als Popstar: Peter Handke bummelt 1973 über die Frankfurter Buchmesse.

In den allmählich austrocknenden literarischen Regionen blühen nur noch wenige Gewächse. Erfreulich aus den – teils bemüht weltläufigen, teils experimentell verspielten – Halbjahreszeitschriften ragt der »Palmbaum« heraus. Dieses »Literarische Journal aus Thüringen« wird seit mehr als 20 Jahren von Jens-Fietje Dwars redigiert und gestaltet, erscheint im quartus-Verlag in Bucha bei Jena, und wird vom Land gefördert. Es ist stark essayistisch konzipiert, hat aber auch stets einen umfangreichen Lyrikteil, ebenso Prosa und Rezensionen.

Jedes Heft hat einen Themenschwerpunkt. Das aktuelle widmet sich den Senkrechtstarts junger Autoren und Autorinnen sowie heutigen Umständen des Erfolges. Vor 225 Jahren erregten Goethes »Die Leiden des jungen Werther« ungeteilte Aufmerksamkeit, ein Briefroman, der begeisterte oder frustrierte. Für die Kunsthistorikerin Verena Paul-Zinserling ist Werther ein egozentrischer Jammerlappen, unfähig, den Lebenswillen einer Frau zu achten. Er wird ihr zur Last, ja, er bürdet ihr sogar die Schuld am eigenen Tod auf. Jens-F. Dwars hält dagegen und bedenkt die Hintergründe, unter anderem Goethes unglückliche Liebe zu Charlotte Buff während der Wetzlarer Zeit. Von ihrem Verlobten Kestner erfuhr er, dass sich ein Studienfreund erschossen habe und dass jener Kestner ihm die Pistole geliehen habe. Goethe »subjektiviert den Fall des anderen, er lädt das Faktische mit einer Eruption von Gefühlen auf, die ihn selbst umtrieben …«

Klaus Bellin setzt seine Besprechung von Thomas Manns »Buddenbrooks« beim Brief des Verlegers Samuel Fischer an, der Debütant (»Der kleine Herr Friedemann«) könne vielleicht auch einen Roman – »nicht so lang« – schreiben. Thomas Mann, 22 Jahre alt, zweifelte zunächst, ob er sich das zutrauen sollte, aber nun spürte er Aufwind und machte sich unversehens daran, die Geschichte der Buddenbrooks zu recherchieren. Lebensläufe, Gewohnheiten, Redewendungen, Getreidepreise, Tagungen der Bürgerschaft … die Notizen füllen an die tausend Seiten. Diesen gründlichen Studien, dem Kompositionsvermögen und einer gehörigen Portion Ironie verdanken wir einen Bestseller, der die Zeit überdauerte. Bellin hebt die strenge Arbeitsweise hervor, traut sich aber keine Verallgemeinerung zu, keinen Abgleich mit Schreibweisen anderer Autoren, gar der Gegenwart. Thomas Mann ist bei der Arbeit am »Zauberberg« nicht anders vorgegangen. Aber der »Zauberberg« würde heute, im Rausch der »autofiktionalen« Nabelschau, vermutlich von keinem Verlag gedruckt werden.

Besonders kristallin formuliert Hans-Dieter Schütt im Alltag journalistischer Praxis: »Handke setzt Poesie gegen die Durchrationalisierung der Hirne …« Wer dessen tief empfundene Natur- und Alltagswahrnehmungen zu schätzen weiß, seine »Exerzitien der Anschauung«, wie es Schütt nennt, die alle »Zeit- und Raumdurchblicker« blass aussehen lassen, wird sich fragen: Wie konnte dieser Autor mit dem spektakulären Stück »Publikumsbeschimpfung« 1966 solches Aufsehen erregen? Ja, Peter Handke surfte damals auf der Welle der neuen Popmusik der Beatles und Rolling Stones. Es ging um Lautstärke und Kritik, auch an der »Beschreibungsimpotenz« der bundesdeutschen Literatur, die er vorher den Koryphäen der Gruppe 47 auf einer Tagung in Princeton vorgeworfen hatte. Im Stück schrie Handke dann dem Publikum nur jene Schimpfworte entgegen, die es selbst gebrauchte. Der furiose Start Handkes als Theaterautor scheint auf den ersten Blick wenig an Anmut zu verströmen, schreibt Schütt, doch »Hochmut (nein: hoher Mut) und Anmut, das ist Handke«. Allein diese fünf Seiten über »Anmut des Asozialen« lohnen, das Heft zu kaufen.

Wie ein Medien-Hype ein Debüt glorifiziert, verfolgt Romina Nikolič am Beispiel des Romans »Axolotl Roadkill« (2010) der damals 17-jährigen Helene Hegemann, die sich dann als zweifellos begabte junge Autorin Plagiatsvorwürfen ausgesetzt sah. Wie jenseits des Marktes gehaltvolle Literatur zustande kam, zeigt Achim Wünsche anhand der von Gerhard Wolf betreuten Untergrund-Edition »Außer der Reihe« des Aufbau-Verlags in der Endphase der DDR.

Jens-F. Dwars betrachtet distanziert zwei Ausstellungen – eine über Goethes Jenaer Jahre im dortigen Botanischen Garten und die Neugestaltung des Nietzsche-Hauses in Naumburg. In Jena konzentriere man sich zu sehr auf Goethes naturwissenschaftliche Studien und spare seine Dichtungen, sein praktisches Wirken als Minister und die weltanschaulichen »Metamorphosen« aus. In diesem Licht aber müsste eine moderne Gedenkstätte den Klassiker vergegenwärtigen, fordert Dwars.

»Palmbaum«, Heft 2/2024, quartus-Verlag, 204 S., br., 12 €.

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