- Politik
- G20 in Hamburg
Angriff auf den Brokdorf-Beschluss
In Hamburg läuft ein umstrittener G20-Prozess zu Randalen auf der Elbchaussee
Der G20-Gipfel in Hamburg liegt mittlerweile mehr als anderthalb Jahre zurück. Die juristische Aufarbeitung wie auch der politische Kampf um die Deutungshoheit der Protesttage dauern nichtsdestotrotz weiter an. Einer der aktuellen Prozesse sticht dabei besonders heraus - die Entscheidung der Gerichte könnte im schlimmsten Fall das Versammlungsrecht in Deutschland als Ganzes im großen Maßstab einschränken.
Blick zurück: Am Morgen des 7. Juli 2017 versuchten Tausende Demonstranten, mit Sitzblockaden die Anreise der Politiker zu verhindern und in die gesicherte »rote Zone« vorzudringen. Abseits davon zog eine Gruppe von mehr als 200 Personen durch die Hamburger Elbchaussee. In der noblen Straße zündeten die großteils schwarz Vermummten zahlreiche Autos an und schlugen Schaufenster ein. Laut Staatsanwaltschaft entstand ein Schaden von mindestens einer Million Euro.
Das Hamburger Landgericht hat nun bezüglich der Krawalle in der Elbchaussee Ende Dezember den ersten Prozess gegen fünf Verdächtige eröffnet. Angeklagt sind vier junge Männer aus Hessen im Alter von 18 bis 24 Jahren sowie ein 23-jähriger Franzose. Ihnen wird Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall, Mittäterschaft bei Brandstiftung, gefährliche Körperverletzung und Verstoß gegen das Waffengesetz vorgeworfen.
Der entscheidende Punkt ist jedoch: Keinem der Angeklagten kann die Staatsanwaltschaft eine konkrete Tat vorwerfen. Die Verdächtigen sollen lediglich in der Gruppe des Protestzuges gewesen sein - und jetzt stellvertretend für die Taten aller haftbar gemacht werden. Laut Staatsanwaltschaft reiche die pure Anwesenheit für eine Verurteilung als Mittäter aus. Die Richter meinten am ersten Verhandlungstag, dass die Verdächtigen eine »psychische Beihilfe« geleistet haben könnten.
Diese Perspektive gerät in einen Konflikt mit bedeutenden Grundrechtsurteilen in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hatte 1985 in seinem wegweisenden Brokdorf-Beschluss festgehalten, dass »Unfriedlichkeit« einzelner Teilnehmender das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht aushebeln dürfe. »Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten [...], dann muss für die friedlichen Teilnehmer der [...] Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen«, führte damals das Gericht aus.
Der Bundesgerichtshof entschied wiederum im Mai 2017, dass das »ostentative Mitmarschieren« in einer gewaltbereiten Gruppe zwar ausreiche, um wegen Landfriedensbruchs verurteilt zu werden. Die Richter bezogen sich jedoch hier explizit auf eine Auseinandersetzung zwischen Fußballhooligans. Sie machten deutlich, dass der Fall nicht auf das Demonstrationsrecht übertragen werden könne.
Die Staatsanwaltschaft versucht, im Falle des Elbchaussee-Prozesses an diese Sichtweise anzuknüpfen. Die Frage lautet demnach, ob die Personengruppe in der Nobelstraße als Versammlung gewertet werden kann oder nicht. Die Staatsanwaltschaft argumentierte in ihrem Eingangsstatement, der Aufmarsch sei keine Versammlung gewesen, wie sie das Grundgesetz schütze. Es sei nur um Zerstörungswut gegangen. Die Verteidiger erklärten, die Polizei hätte einschreiten müssen, um ihren Mandanten und anderen friedlichen Teilnehmern des Aufzugs das Demonstrationsrecht zu sichern.
Experten warnen bereits vor den Folgen eines Urteils im Sinne der Anklage. »Sollte sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Sichtweise durchsetzen, hätte dies zukünftig eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Demonstrationsteilnehmer«, sagte Maximilian Pichl, Rechtswissenschaftler und Experte für Versammlungs- und Polizeirecht, gegenüber »nd«. Demonstranten könnten so nie sicher sein, ob sie nicht für Taten anderer haftbar gemacht werden. »Dies würde Tür und Tor für willkürliche Verfahren gegen Protestierende eröffnen.« Laut Pichl sei der Elbchaussee-Prozess Bestandteil einer längeren Rechtsentwicklung der vergangenen Jahre. »Demonstrationen mit antikapitalistischer Ausrichtung werden in Deutschland mehr und mehr kriminalisiert.«
Teile der linksradikalen Szene haben sich mittlerweile demonstrativ hinter die fünf Angeklagten gestellt. Zum Prozessauftakt hatten rund 350 Menschen in Hamburg eine Solidaritätsdemonstration durchgeführt. Auch im Gerichtssaal kam es an den ersten Verhandlungstagen zu Unterstützungsbekundungen. Für die Staatsanwaltschaft ein Affront. Das Gericht hatte Mitte Januar auf ihren Antrag hin beschlossen, die Öffentlichkeit bis zum Ende der Beweisaufnahme von den Prozessen auszuschließen. Bis Mitte Mai sind die Verhandlungstage angesetzt. Journalisten dürfen nicht mehr aus dem Gerichtssaal berichten.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.