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»Krieg diktiert Lebensbedingungen«
In Venezuela steht die chavistische Basis zu Maduro, auch wenn Kritik geäußert wird
Am Jahrestag der Revolution schien der Sturz von Venezuelas Staatschef Nicolás Maduro nur eine Frage von Stunden zu sein. Das musste glauben, wer in den Sozialen Netzwerken unterwegs war. Massenhaft zirkulierten in Facebook und über WhatsApp Nachrichten über die bevorstehende Invasion durch die US-Marines, von ihrem Anlanden an den Küsten, von ihrem Einmarsch über die grünen Grenzen und von unmittelbar bevorstehenden Bombardierungen. Dazu kursierten Meldungen über Paramilitärs, die bereits an strategisch wichtigen Punkten stünden und in Kürze den Präsidentenpalast einnehmen würden.
»Solche Kampagnen in den Sozialen Netzen sind eine große Herausforderung, gegen die wir angehen müssen«, sagt Diana Santana. Diese Tastaturkrieger und ihre Onlinelabors für den schmutzigen Krieg seien noch lange nicht geschlagen, meint sie. Doch statt die bevorstehende virtuelle Entmachtung in den Sozialen Netzen zu verfolgen, feierte sie mit Tausenden von Gleichgesinnten den 20. Jahrestag der bolivarianischen Revolution auf der breiten Avenida Bolívar in Caracas.
Am 2. Februar 1999 hatte Hugo Chávez das Präsidentenamt angetreten. Und wie viele Chavistas ist auch Diana Santana davon überzeugt, dass die große Mehrzahl der chavistischen Wähler*Innen weiter zur Regierung hält und sie gegen jegliche Umsturzversuche von außen und innen verteidigen wird. »Denn allen ist klar, dass es nicht nur um die Verteidigung der Revolution, sondern um das Vaterland geht«, sagt Diana Santana.
Die 47-jährige Mutter dreier Kinder ist Anwältin für Strafrecht. Sie ist Mitglied der regierenden Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV) von Staatschef Maduro. Und sie hat keinen festen Wohnsitz. 2013 schloss sie sich den Pioneros Pobladores an, einer Bewegung mit angeschlossenem Sozialprogramm, das für die Bereitstellung von Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen eingerichtet wurde. Damit reagierte der damalige Präsident Hugo Chávez auf die extreme Wohnungsnot gerade in den unteren Schichten der Bevölkerung.
Venezolaner*Innen wie Santana waren vor Chávez Amtsantritt von Sozialprogrammen ausgeschlossen. Nach vorsichtigen Schätzungen fehlten 1999 rund drei Millionen Wohnungen und rund 70 Prozent der Bevölkerung lebte in Armut. Unvorstellbar für ein Land, das im gesamten 20. Jahrhundert Hunderte Milliarden Dollar für die Ausbeutung und Vermarktung seines Ölreichtums erhielt.
Als Begünstigte des Programms Pioneros Pobladores bewacht sie im Wochenrhythmus zusammen mit anderen ein Grundstück, das ihnen vor drei Jahren von der Armee überlassen wurde. Seither hoffen sie darauf, mit staatlicher Hilfe ein Gebäude mit 24 Wohneinheiten errichten zu können. Das Grundstück liegt ganz in der Nähe des Boulevards Sabana Grande in einer Mittelschichtgegend mit Wohnhäusern, Geschäften, Boutiquen und Restaurants. Eine Wohnung in Sabana Grande wäre für Diana Santana eine immense Verbesserung ihrer Lebensqualität.
Am Jahrestag der Revolution waren weder Schüsse noch das Stakkato von Maschinengewehren zu hören. Auch keine dröhnenden Flugzeuge, die Bomben abwarfen und auf den Straßen lagen keine Leichen verstreut. Ebenso wenig waren Ruinen oder die typischen Trümmerhügel zu sehen, die die Bilder kriegerischer Auseinandersetzungen prägen. Dennoch erleben die Venezolaner*Innen einen Krieg niedriger Intensität, der ihnen die Bedingungen diktiert, unter denen sie mit ihren Leben zurechtkommen müssen. Auch bei der chavistischen Basis ist die Stimmung mehr als angespannt.
Vielleicht spüren sie in der Hauptstadt der Republik die Not und den Mangel an lebenswichtigen Dingen nicht so sehr, wie die Bevölkerung in der Provinz, für die sie ein fester Bestandteil ihres alltäglichen Leidens geworden sind. Denn in der Fünfmillionenstadt sorgt die Regierung mit Hochdruck dafür, dass der Strom nicht ausfällt, dass Gas und Wasser aus den Leitungen strömen, dass der öffentliche Nahverkehr nicht zusammenbricht und, so gut es eben geht, eine Normalität aufrechterhalten bleibt.
Doch Caracas war und ist ein Pulverfass. In der Nationalhymne heißt es: »Folget dem Beispiel, das Caracas gab« in klarer Anspielung auf den Aufstand der Kolonie gegen die spanische Monarchie am 19. April 1810. Und die Geister des »Caracazo« quälen noch heute die Regierenden. Bei dem Aufstand im Februar 1989 kamen nach offiziellen Angaben 276 Menschen ums Leben, inoffizielle Schätzungen gehen von bis zu 3000 Todesopfern aus.
Angesichts der Offensive der Opposition hätten die organisierten Gruppen des Chavismus die Bevormundung der Regierung beiseitegeschoben, sagt Diana Santana. Die jüngsten Ereignisse hätten sie als politische Bewegung reifen lassen. »Wir waren daran gewöhnt, nach den Vorgaben von oben zu handeln. Jetzt haben wir uns von diesen Fesseln befreit, treffen eigene Entscheidungen und marschieren als wahre Poder Popular, als Macht des Volkes.« Bedauerlicherweise würden jedoch selbst die offiziellen Radio- und Fernsehsender nicht darüber berichten. Demnächst wollen sie vor die Botschaften und Einrichtungen internationaler Organisationen protestieren.
Andere Gruppierungen würden dagegen ganz andere Aufgaben wahrnehmen. »Einige gehen aufs Land und helfen dort beim Anbau von Nahrungsmitteln, um etwas gegen die schwierige Versorgungslage zu tun.« Die ist für sie die Konsequenz aus den gesunkenen Staatseinnahmen durch den Preisverfall und die niedrige Fördermenge beim und von Rohöl, aber auch der von US-Präsident Donald Trump verhängten Sanktionen.
Die angekündigte humanitäre Hilfe sieht sie mit gemischten Gefühlen. Die Regierung habe nicht darum nachgesucht. »In Venezuela gibt es genügend Nahrungsmittel, aber wegen der Hyperinflation nur zu horrenden Preisen.« Es gäbe genügend Finanzmittel, um Medikamente im Ausland zu kaufen. »Trumps Sanktionen verhindern, dass wir diese dafür nutzen können.« Hier zeige sich, dass alles Teil einer Strategie sei, eine Militärintervention zu rechtfertigen.
Mit seinen 73 Jahren ist Robinson Toro schon im Rentenalter. Doch noch immer geht er einer geregelten Arbeit nach. Toro ist langjähriges PSUV-Mitglied und gehört zugleich zur »Cèlula Guerrillera de los años 60 hermanos Pasquier«, einer Gruppe ehemaliger Guerilleros aus den 1960er Jahren. Wöchentlich treffen sie sich und diskutieren die Lage.
»Dass sich Guaidó zum Präsidenten ernennt und die Anerkennung ausländischer Regierungen sucht, hat mich nicht überrascht«, sagt er. Das sei nur ein Teil der US-Strategie, die aber wegen dem soliden Rückhalt des Volkes für den revolutionären Prozess, der von Präsident Maduro angeführt werde, nicht aufgehen werde. »Mehrfach hat die Armee ihre Loyalität unter Beweis gestellt«, so Toro.
Für Ronny Reyes ist die Armee kein Garant der Revolution. »Die oberen Ränge werden fest zur Regierung stehen, denn diese ist sehr darum bemüht, dass es ihnen im Rahmen der allgemeinen Misere an nichts mangelt.« Dagegen leiden die mittleren und unteren Dienstgrade wie der normale Teil der Bevölkerung unter der Hyperinflation, der schlechten Versorgung mit nahezu allem und der enormen Kriminalität.
Reyes ist ebenfalls PSUV-Mitglied. Der 51-Jährige steht fest zur Revolution. Abends engagiert sich der Anwalt für Arbeitsrecht als Juradozent in der Misión Sucre. Die Misión Sucre ist ein Bildungsprogramm, das die Regierung 2005 aufgelegt hat, und mit dem versucht wird, den unteren Schichten eine höhere Bildung zu ermöglichen. Doch im Gegensatz zu vielen, die ihre unverbrüchliche Solidarität mit der Revolution bekunden, sieht Reyes die Regierung in einer sehr schwierigen Lage. Wegen der immer geringeren Einnahmen aus dem Ölexport und den von den USA verhängten Sanktionen werde die Regierung immer weniger Mittel für Bildungs- und Sozialprogramme haben. Und gerade die bewirkten den Rückhalt der unteren Schichten für die Revolution. »Gegenwärtig ist alles noch einigermaßen stabil, aber wie wird es in ein paar Monaten sein?«, fragt er schulterzuckend. Dennoch, solange die Auswirkungen der Krise die Basisaktivisten der Revolution nicht gegen die Wand drücken, werde sich die Regierung, wenn auch mit Schwierigkeiten, halten können, sagt Reyes.
Übersetzung: Jürgen Vogt
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