- Berlin
- polnische Obdachlose
Ratlos nach der Räumung
Lager dreier polnischer Obdachloser in Mitte aufgelöst / Bezirksamt verteidigt den Einsatz
»Wir haben keine Idee, was wir jetzt machen sollen, kein Geld, kein gar nichts.« Der Mann sitzt in mehrere Decken gehüllt in einem Einkaufswagen. Er kann nicht laufen. Neben ihm stehen seine Gefährten, eine Frau und ein Mann. Alle drei kommen aus Polen. Und an diesem Dienstagmorgen, kurz nach neun Uhr, sind sie ratlos. Ihr Schlafplatz wurde geräumt, unter der S-Bahn-Brücke in der Dircksenstraße, wenige Minuten vom Alexanderplatz entfernt.
Nur der Mann im Einkaufswagen spricht Deutsch, seinen Namen möchte er nicht nennen. Seit zwei Jahren lebe er in Berlin. Und seitdem übernachte er an dieser Stelle. Es habe nie Probleme gegeben. Das sagt auch der Mitarbeiter des direkt angrenzenden Restaurants »King Döner«. Die Obdachlosen kämen hin und wieder in den Laden, er gebe ihnen beispielsweise heißes Wasser, wenn sie darum bitten. »Für mich ist das eine Frage der Menschlichkeit.«
Am Dienstagmorgen rückte nun allerdings das Ordnungsamt an, mit drei Personen sowie einem halben Dutzend Mitarbeitern der Berliner Stadtreinigung. Der Schilderung der betroffenen Obdachlosen zufolge, wurde eine kleine Holzpalette, die die drei bei ihrem Hab und Gut stehen hatten, mithilfe eines Kran-Lkw entsorgt sowie »Müll« weggekehrt. Ihnen sei gesagt worden, dass sie dort, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, nicht mehr übernachten dürften.
Das Bezirksamt Mitte stellt den Ablauf etwas anders dar. Das Ordnungsamt sei vor der Räumung vor Ort gewesen, »um die betroffenen Personen (...) auf die anstehende Räumung hinzuweisen und mit mehrsprachigen Flyern, auch in Polnisch, mit Hilfsangeboten des Bezirkes zu versorgen«. Die Obdachlosen seien weder überrascht worden, noch schliefen sie bereits seit zwei Jahren an dem Ort, sagt das Bezirksamt. »Die Räumung selbst verlief sehr friedlich«, so der grüne Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel gegenüber »nd«.
Dieser steht seit Längerem für das vergleichsweise rigorose Vorgehen des Bezirks gegen obdachlose Menschen in der Kritik. Zuletzt sorgte im Januar ein Einsatz von Ordnungsamt und Polizei im Ulap-Park für Entsetzen. Dort wurde ebenfalls ein Camp von Obdachlosen geräumt, einer gefesselten Frau war von Polizisten ein Tuch über den Kopf gezogen worden. Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linkspartei) erklärte damals über den Kurzmitteilungsdienst Twitter: »Es ist schon unerträglich, dass Mitte räumen lässt, ohne den Menschen Hilfe anzubieten, aber der Umgang der Polizei ist genauso unerträglich.« Von Dassel wiederum wies die Kritik an dem Einsatz zurück. Er sieht den Senat und vor allem die Obdachlosen in der Pflicht. Niemand müsse in Berlin auf der Straße schlafen, behauptete von Dassel, ebenfalls auf Twitter. Es sei »nicht sozialer, Menschen draußen in ihrem Elend zu lassen, als sie zur Hilfeannahme zu nötigen«.
Allerdings: Sozialarbeiter sind bei den Einsätzen oft nicht vor Ort, auch Dienstagfrüh in der Dircksenstraße waren keine dabei. Matthias Schultrich vom Verein Gangway - Straßensozialarbeit in Berlin e. V. , der in ganz Berlin Straßensozialarbeit macht, sagt gegenüber »nd«, dass es in letzter Zeit häufiger auch zu kleinen Räumungen in Mitte komme. Und anders als beispielsweise in Charlottenburg, wo die Sozialarbeiter oft im Vorfeld von solchen Einsätzen wüssten und so die Chance hätten, die Betroffenen rechtzeitig zu informieren, kämen die Räumungen in Mitte »leider auch für uns überraschend«, so Schultrich. Auch von dem Einsatz am Dienstag habe man nichts gewusst. Er fügt hinzu: »Anders als Herr von Dassel darstellt, machen wir in der Praxis sehr wohl die Erfahrung, dass das Vorgehen von Mitte zu Verdrängung in andere Stadtteile führt.« Mittlerweile erreichten die Sozialarbeiter vermehrt Hinweise aus anderen Bezirken über Obdachlose, die sich neue Aufenthaltsorte suchten.
Das ziehen auch die drei Geräumten von der Dircksenstraße in Erwägung. Sie sind nach dem Einsatz sichtlich aufgewühlt. Was sie jetzt machen? Vielleicht erst mal zum Ostbahnhof fahren, sagt der Mann im Einkaufswagen. Also nach Friedrichshain-Kreuzberg. Das ist ebenfalls grün regiert, aber nicht mehr im Zugriffsbereich des Ordnungsamtes Mitte.
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