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- Gender Studies in Ungarn
Die Ordnung der Geschlechter
Geschlechterstudien in Ungarn wird es bald nicht mehr geben - das ist nicht nur ein Angriff auf die wissenschaftliche Freiheit, sondern auch auf die sexuelle Selbstbestimmung.
Der ungarisch-amerikanische Milliardär George Soros ist ein erklärtes Feindbild der ungarischen Regierung. Eine aktuelle Kampagne beschuldigt ihn, gemeinsam mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker illegale Einwanderung zu fördern. Seitdem diskutiert die Europäische Volkspartei (EVP) den Ausschluss der Regierungspartei Fidesz. Doch der Name Soros fällt auch immer wieder bei der Neuordnung des Bildungssektors in Ungarn. Die von ihm gegründete Zentraleuropäische Universität (CEU) in Budapest verlegt aufgrund des zunehmenden politischen Drucks nach 26 Jahren den Großteil ihres Lehrbetriebs nach Wien. Derweil beschränkt die Regierung ihr Vorgehen nicht nur auf unliebsame, als Hort des Liberalismus geltende Universitäten.
Per Anordnung von Premierminister Viktor Orbán wurde das Masterprogramm Gender Studies im Oktober 2018 aus der Liste der in Ungarn zugelassenen Studiengänge gestrichen - trotz heftiger Proteste und einer Petition, die von 5000 Akademiker*innen unterzeichnet wurde. Betroffen sind zwei Hochschulen, die CEU und die größte staatliche Universität in Budapest, Eötvös Lorand University (ELTE). Zwar dürfen bereits eingeschriebene Studierende ihr Studium beenden, zukünftige Studienaufnahmen sind jedoch nicht mehr möglich. Der aktuelle Studiengang an der ELTE wurde 2017 gestartet, die erste Kohorte graduiert im Juli 2019. Seit der Erstakkreditierung an der CEU 1997 haben rund 630 Studierende eins der vier Gender Studies Masterprogramme absolviert.
Für die Wissenschaft von der Antike bis in die Gegenwart ist Geschlecht eine Kategorie von grundlegender Bedeutung. Geschlechtercodes sind in jeder Form des Wissens eingelagert. Die interdisziplinäre Geschlechterforschung untersucht, wie ein bestimmtes Wissen über Geschlecht in einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext in Verbindung mit anderen Kategorien hergestellt wird.
Damit geht eine (dekonstruktivistische) Hinterfragung der Naturhaftigkeit und Binarität von Geschlecht in den Human- wie auch in den Naturwissenschaften einher. Es wird nach der Bedeutung der Geschlechterkonstruktionen für Gesellschaft und Wissenschaften gefragt. Mitte der 1980er Jahre entwickelten sich im deutschsprachigen Raum die Geschlechterstudien als eigene Disziplin. Ulrike Auga
Die ungarische Regierung fordert nun von den Universitäten, die Steuergelder besser zu nutzen. Dabei handelt es sich bei der CEU um eine privat finanzierte Universität. Dem Vorwand, es gäbe einen Mangel an Studierenden, widerspricht die Zahl von mehr als 200 Bewerbungen auf 22 Studienplätze an der CEU. Zudem wird den Gender Studies vorgeworfen, sie widersprächen christlichen Werten. Geschlechterkritische Religionsforschung und Theologie gelten dagegen als etablierte wissenschaftliche Arbeit.
Das Verbot der Gender Studies in Ungarn ist Teil eines größeren Angriffs auf die Demokratie. Der ungarische Akkreditierungsausschuss (HAC) gab am 1. September 2018 bekannt, er habe an dem Regierungsvorschlag zum Lizenzwiderruf des MA-Programms Gender Studies nicht mitgewirkt. Die Regierung ist somit für die Intervention in ein akademisches Programm allein verantwortlich. Dieses Vorgehen verstößt gegen das ungarische Grundgesetz und die Vereinbarungen des Europäischen Hochschulraums. Nie zuvor hat eine Regierung eines EU-Mitgliedstaates versucht, den universitären Lehrplan zu verändern, ohne das entsprechende Gremium zu konsultieren. Das Ende der Gender Studies in Ungarn stellt damit einen gefährlichen Präzedenzfall für staatliche Eingriffe in die Hochschulbildung dar, der auch für andere Fächer große Auswirkungen haben könnte.
Die Entscheidung der Regierung provozierte zahlreiche Proteste, darunter ein Schreiben der Internationalen Forschungsgesellschaft für Institutionen fortgeschrittener Geschlechterstudien (RINGS) - einer Vereinigung von mehr als 60 Organisationen - an das Europäische Parlament und Premierminister Orbán. Daraufhin lud der Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter (FEMM) die RINGS-Mitglieder zu einem Meinungsaustausch ein. In der Sitzung am 8. November 2018 in Brüssel trugen Wissenschaftlerinnen ihre Positionen zu Angriffen der politischen Rechten auf die Forschung der Gender Studies und für das Leben von LGBTIQ*-Personen in Europa vor. FEMM drückte dort seine tiefe Besorgnis über den Paradigmenwechsel in der Art der Angriffe aus.
Das Vorgehen der ungarischen Regierung muss dabei in einem größeren Kontext gesehen werden. Anti-Gender-Bewegungen haben sich im rechtspopulistischen Lager als Reaktion auf die Krise der neoliberalen Weltordnung formiert. Genderkonzepte werden auch gegen die Sexualerziehung in Schulen, LGBTIQ*-Rechte, die Istanbul Konvention, die Europäische Union, die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation gerichtet. In Ländern wie Frankreich, Italien, Finnland und Polen lassen sich verstärkte Angriffe auf Geschlechterstudien als physische Bedrohungen, mediale Attacken oder Entzug finanzieller Förderung beobachten. Anliegen der rechten Parteien ist die Abschaffung der Geschlechterforschung - wie es beispielsweise die Alternative für Deutschland (AfD) fordert. Seit ihrer Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag nutzt die AfD Mittel kleiner und großer parlamentarischer Anfragen, um die Geschlechterforschung zu denunzieren.
Die politische Rechte stellt Geschlechterforschung als Bedrohung für Kinder dar, die Pädophilie fördere und die vermeintlich natürliche und gottgewollte heterosexuelle Ordnung störe. Dem gegenüber setzen sie ein hierarchisches Geschlechterkonzept, das im Zentrum aller nationalistischen Vorstellungen steht. Die individuelle Reproduktion wird in Verbindung zur Reproduktion des möglichst »reinen Volkskörpers« gesehen. Daher werden Ein- und Ausschluss stark überwacht und Geschlecht als nur männlich oder weiblich binär verstanden.
In Gesellschaften, die starke Veränderungen durchlaufen, ist die symbolische Geschlechterordnung ein zentraler Austragungsort von politischen, sozialen und religiösen Konflikten. Die ungarische Regierung nutzt die Geschlechterstudien, um von den strukturellen sozioökonomischen Ungerechtigkeiten abzulenken und die Unzufriedenheit der Bevölkerung auf Gleichstellungsfragen zu kanalisieren. Auf EU-Ebene ist sie darum bemüht, das eigene Vorgehen zuverharmlosen.
In einer Antwort auf den Brief der RINGS verteidigte Csaba Dömötör, Staatssekretär für parlamentarische Fragen, das Vorgehen der ungarischen Regierung und wies den Vorwurf, die akademische Freiheit einzuschränken, zurück. »Das Thema«, so Dömötor, könne schließlich in anderen akademischen Feldern erforscht und an stiftungsfinanzierten Universitäten integriert werden.
Zugleich betonte er, dass die Akkreditierung eine innerstaatliche Angelegenheit sei. Dabei gelten jedoch für alle EU-Mitgliedstaaten verbindliche Bestimmungen zur Akkreditierung akademischer Programme, gegen die Ungarn verstößt.
Tatsächlich zielen die Attacken sowohl auf die Freiheit von Forschung und Lehre als auch auf sexuelle Selbstbestimmung und reproduktive Rechte. Das Ergebnis der EU-Parlamentswahl 2019 ist daher zentral für die Abwendung reaktionärer Familienpolitik. In Ungarn wird zunächst die CEU über die in den USA akkreditierten MA- und Promotionsprogramme weiterhin im Bereich der Gender Studies lehren. Der Forschungsverband der RINGS zeigt Solidarität und formuliert in seiner Verfassung, dass innerstaatlich nicht anerkannte Institutionen der Geschlechterforschung Mitglieder bleiben können. Das betrifft auch Programme in Polen und Russland. Bei der Kritik an gesellschaftlichen Problemen und der Suche nach wirksamen Lösungsansätzen sollte indes verstanden werden, dass unterschiedliche historische Erfahrungen vielfältige Möglichkeiten individueller und kollektiver Handlungsmacht sowie das Entwerfen solidarischer Gesellschaftlichkeit erlauben können.
Prof. Dr. Ulrike Auga ist Kultur- und Religionswissenschaftlerin sowie Geschlechtertheoretikerin. Sie arbeitet in Berlin und Canterbury und wirkte als Expertin im EU-Parlament in Brüssel.
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