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  • Linksliberale und Kolonialkritik

Der russische Elefant

Wie der deutsche Linksliberalismus die Kolonialkritik entdeckte - und warum in derselben eine große Lücke klafft.

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Zwischen Russland und Namibia gibt es eine Gemeinsamkeit: Beide Länder waren Schauplätze des deutschen Kolonialismus. Doch während der afrikanische Kolonialismus endlich präsenter wird, muss man den Zweiten Weltkrieg im Osten noch immer erklären: Er war kein »normaler« Staatenkrieg, auch nicht nur ein Kampf des Faschismus gegen den Kommunismus. Er war ein megalomanes Kolonialprojekt. Er trachtete nach Land für das »Volk ohne Raum« - vom Ural bis zur Schwarzmeerküste, deren Metropole Odessa »Gotenhafen« heißen sollte. Städte sollten verschwinden, über Moskau sahen wilde Fantasien einen Stausee. Neue Städte für deutsche und »nordische« Menschen sollten entstehen, inmitten dörflicher Speckgürtel. Dahinter erst sollten die Russen hausen, Diener und Hilfskräfte jener Elite.

Genuin nazistisch war daran die Brutalität, die Umsetzung zu versuchen - und die ideologische Engführung von Bolschewismus und »Juden«. Ansonsten griff der Aberwitz auf alte Figuren zurück: das Reden vom »asiatischen Charakter« Russlands, die lange verbreitete Historikerweisheit von der fehlenden »Zivilisationsbegabung« der Slawen, die frühmittelalterliche Keime russischer Staatlichkeit auf Wikingerüberfälle zurückführte. Die Russophilie in Teilen der Weimarer Rechten stand komplementär zu der paternalistischen Geste von Liberalismus und Sozialdemokratie, nach der die Russen der »Befreiung« harrten, auch durch Krieg. Hatte nicht schon eine - deutsche - Zarin im 18. Jahrhundert deutsche »Kolonisten« gerufen, um Wirtschaft und Kultur zu heben?

Dieses Kolonialprojekt fußte darauf, Slawen, besonders Russen, nicht als »weiß« zu sehen, nicht als ebenbürtige Menschen. In der »Rassenlehre« standen Afrikaner und Asiaten unter ihnen, aber die Denkweise funktionierte ähnlich: Es gab das gleiche Changieren zwischen Exotismus und dominantem Überlegenheitsmodus, das sich auch auf Kolonisierte in Übersee richtete - die »Russische Seele« ist der »Edle Wilde«. Und in beiden Fällen konnte die Mission der »Kultivierung« jederzeit umschlagen in Phantasmen barbarischer Bedrohung.

In »Mein Kampf« kündigt Hitler diesen eurasischen Kolonialismus an: Man müsse den »ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen« auf das »Land im Osten« lenken: »Wir schließen (...) ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.« Diese monströsen, sich stetig radikalisierenden Pläne, die ein Ausmerzen der slawischen, russischen Intelligenz voraussetzten, lassen sich nicht nur in Wälzern zum »Generalplan Ost« nachlesen, sondern auch in Ralph Giordanos Buch »Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte«.

Bis heute aber hat sich dieses Wissen nicht in eine Haltung übersetzt, die dem Vernichtungskrieg gegen den »Untermenschen« empathisch erfassen und seinen geistigen Vorlauf bearbeiten könnte. Erst 2015 fand Deutschland zu einem kargen offiziellen Bedauern für die drei Millionen Sowjetsoldaten, die allein in deutschen Lagern zu Tode kamen, weil sie ganz anders behandelt wurden als westliche Gefangene. Als Frankreich nach der jüngsten Terrorserie Bomber nach Syrien schickte, übte Berlin »Solidarität«. Als aber Moskau auf Terror reagierte, schrieb die FAZ von »Putins Rache« und gab man ihm sogar den »Vernichtungskrieg« zurück.

Man kann das natürlich erklären. Russland ist nicht Namibia. Der Zarismus hatte zwar kaum Überseekolonien, war aber eine imperialistische Macht - und die UdSSR schlug nicht nur die Möchtegernkolonialisten zurück, sondern errichtete ein eigenes System aus Vasallenstaaten. Es mag sogar diskutabel sein, ob dieses nicht auch »koloniale« Züge trug. Doch ist hierzulande daran zu denken, dass noch die DDR als Partner auf Augenhöhe erscheint, wenn man um Hitlers Versklavungsprojekt weiß - und sich die Rote Armee trotz aller Übergriffe diszipliniert verhielt im Vergleich zu den deutschen Exzessen.

Im heute herrschenden westdeutschen Gedächtnis bot nach 1945 der Kalte Krieg dem alten Rassismus neue Kleider. Noch der letzte Russenfresser ging als Freiheitskämpfer durch. Alte CDU-Plakate zeigen, wie nahtlos man vom Herrenblick in eine Opferrolle fand. Nach 1990 liebte man kurz den taumelnden Jelzinstaat - und die Möglichkeit, einmal mehr den Lehrmeister zu geben. Doch seit der Konsolidierung unter Putin kehrt die Dämonie zurück.

Nun ist der Mainstream, was er ist. Erstaunlich mutet aber an, dass auch das linksliberale Milieu, das sich heute in »postkolonialem« Denken übt, den Elefanten nicht sieht, der hier im Raume steht. Geht es in diesen Diskussionen nicht gerade darum, Tradition zu hinterfragen und die zu »Anderen« erklärten als Handelnde mit eigener Perspektive und Agenda anzuerkennen?

Doch stieß sich auch in diesen kolonialsensiblen Kreisen niemand etwa an jenem gestiefelten Klischee namens (ja, tatsächlich) »Katja Kreml«, das sich das deutsche Fernsehen für die jüngste Fußball-WM ausdachte und mutmaßlich für wohlmeinend hielt. Es gibt auch - oder gerade? - von dieser Seite keine Kritik an den Zerrbildern tumber Mafiaoligarchen und sexistischen Imaginationen der russischen Frau, die man in Deutschland bisweilen für Satire hält. Dabei ist das genau jene begehrliche Sexualisierung des so kindlich-lächerlichen wie bedrohlichen Anderen, die auch ein Kernelement des Kolonialrassismus bildet.

Stattdessen hält man es für selbstverständlich, statt etwa in Russland populärer Kulturschaffender stets nur diejenigen zu feiern, die des »Westens« Lied singen, die von Stalins, Russlands, Putins Missetaten künden - der Rest wird schnell als Staatskitsch markiert: Was der »postkoloniale« Diskurs in jedem anderen Kontext als »Tokenismus« brandmarkt, also als Maskottchentrick, ist hier unhinterfragte Routine.

Dass all dies jenem - an sich begrüßenswerten - Sensibilisierungsdiskurs so oft entgeht, liegt wohl daran, dass dieser aus dem angloamerikanischen Wissensraum weniger rezipiert als einfach importiert wurde. So wichtig es ist, den deutschen Überseekolonialismus zu vergegenwärtigen, der flächenmäßig immerhin das drittgrößte Imperium beherrschte, so überfällig wäre es, diese Denkleistung auch auf den größten Kolonialkrieg der Geschichte zu münzen, der seinen Opfern bis heute nicht verziehen wird.

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