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Am eigenen Leib erfahrbar
Überbordend und aufregend: Der Sammelband »Tschechoslowakische Neue Welle«
Tschechoslowakische Filme - da fällt mir ein italienisches Buch ein. Nämlich: »Wenn ein Reisender in einer Winternacht« von Italo Calvino. Und darin geht es um dich, lieber Leser, wie du dich anschickst, den neuen Roman von Calvino, ebenjenen »Reisenden in einer Winternacht«, zu kaufen und zu lesen. In der Buchhandlung begegnest du einer geheimnisvollen Fremden; das erstandene Buch, dessen Beginn in den Roman eingeschoben ist, entpuppt sich schnell als ganz anderer Text … und schon ist die Suche nach Liebe und Text in vollem Gange.
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Jonas Engelmann/Andreas Rauscher/Josef Rauscher: Tschechoslowakische Neue Welle: Das Filmwunder der Sechziger.
Ventil, 352 S., br., 25 €.
Überflüssig zu sagen, dass sie nie an ihr Ende kommen wird. Überflüssig auch zu sagen, dass ich nicht die geringste Ahnung von tschechoslowakischen Filmen habe, ja, bisher in diesem Zusammenhang immer nur an Märchen und Grobkörniges mit Rübezahlnamen gedacht habe. Keineswegs überflüssig zu sagen aber, dass der neue Band des Ventil-Verlages über die »Nová Vlna« der 60er Jahre mir ausnehmend gut gefallen hat, gerade vor dem Hintergrund der bezaubernden Unwissenheit, die mich spinnwebgleich umfing und die ich nicht nur nicht abgeschüttelt habe, sondern mithilfe des Sammelbandes zu einem geradezu verhexenden Schleier ausklöppeln konnte.
Zunächst aber zurück zum Anfang, lieber Leser. Der für eine Buchbesprechung ungewohnte Einstieg dient hier nicht allein dazu, meine Untauglichkeit für die Besprechung eines Sammelbandes über den tschechoslowakischen Film zu kaschieren, er führt dir gleichsam schon den Zauber des Sujets vor Augen. Der speist sich, glaube ich dem Sammelband (und ich habe keinen Grund, dies nicht zu tun), aus der Reflexion über die eigenen Produktionsbedingungen, formalem Wagemut, poetischem, ja märchenhaftem Blick auf die Zeitumstände und der Entfremdung des Alltäglichen.
Der Zustand, in dem du dich jetzt gerade hoffentlich befindest, leicht irritiert, leicht belustigt und leicht neugierig, vor allem aber: leicht - das ist eben der Effekt der »Nová Vlna«! Und nichts weniger wollte ich dir durch den radikal subjektiven Blick, als Auteur gewissermaßen, am eigenen Leib erfahrbar machen, ebenso, wie es der tschechoslowakische Film wohl zu tun pflegte.
Einen idealtypischen Film von, sagen wir, Věra Chytilová, Jiří Menzel oder Jaromil Jireš haben wir uns den Schilderungen im Buch nach in etwa wie folgt vorzustellen: Unter einem Titel wie »Eine Jahreszeit aus Brot« (auch »Perlenhund kommt, Perlenhund geht!«) folgen wir dem jungen Bogumil, genannt »Perlenhund«, zur Zeit der deutschen Besatzung in ein entlegenes Dorf, wo er eine Stelle als Kaminkehrer antreten möchte. Jedoch kann er die Kaminkehrerwerkstatt partout nicht finden, da sich hinter jeder Tür im Dorf entweder ein Büro oder ein Bordell verbirgt.
In einem der Bordelle lernt er die junge Jana kennen, die dort vergeblich versucht, einen geborgten Siebenschläfer zurückzugeben. Die beiden jungen Leute tanzen auf dem Tisch und zerschneiden schließlich die Leinwand, woraufhin sie in einem Kino in ein Bett aus Butter fallen, das die Bäuerinnen extra für sie angefertigt haben. Und der Siebenschläfer schaut zu.
So oder so ähnlich hätte es gefilmt werden können! Wie du siehst, wirkt manches am tschechoslowakischen Film befremdlich - vieles mehr aber wirkt berückend, erregend verschroben, überbordend und sehr aufregend. Das Geflecht aus diakritischen Zeichen und raunenden Namen, das die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes ausbreiten, gewinnt beim Lesen einen unwiderstehlichen Sog, den du so bei einem Buch mit wissenschaftlichem Anspruch gar nicht erwartet hättest. Dass wir uns nicht missverstehen: Dieser Anspruch wird auch eingelöst. Sämtliche Beiträge argumentieren klar, originell und gedankenvoll nach den Regeln des akademischen Benimms. Die Aufsätze zu einzelnen Filmschaffenden und ihrem Werk sind in einen gut verständlichen zeit- und kunsthistorischen Kontext eingebettet. Zur Abrundung gibt es einen umfangreichen lexikalischen Teil.
Überhaupt ist der Band für eine wissenschaftliche Publikation erstaunlich lesbar und klar geraten. Gerade dieser Verzicht aufs Verquaste aber sorgt vielleicht dafür, dass das Buch nach und nach Züge einer eigenen, geheimnisvollen Welt annimmt, eines ausstaffierten, ausgedachten Universums mit tolkieneskem Detailgrad. Wir hören von Filmschulen, von Puppentheatern, dem Gott Godard, von Außenseitern und lachenden Humanisten, von Bildphilosophen und Bogumil, immer wieder Bogumil …
Auch in dir, Leser, wird der Band sicherlich den Wunsch erwecken, es möge den tschechoslowakischen Film in Wahrheit gar nicht geben. Nie könnte er so preziös und zugleich so wurstartig duftend schimmern, wie er hier entworfen wird. Und darum habe ich für meinen Teil entschieden, um des schönen Mysteriums willen niemals auch nur einen einzigen Film der »Nová Vlna« schauen zu wollen. Dir freilich, so viel sei schon verraten, wird es vielleicht genauso, vielleicht aber auch ganz anders ergehen, mein lieber Bogumil!
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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