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SPD fordert nicht mehr als »das Mindeste«
Horst Kahrs über den Niedergang der Sozialdemokratie als Folge veränderter Kräfteverhältnisse
Eine gute Nachricht auch mal für die SPD: Nur 23 Prozent der Wahlberechtigten behaupten 2018 in einer repräsentativen Umfrage, dass sie »auf keinen Fall« die SPD wählen würden. Weniger erklärte Gegner hat keine andere Bundestagspartei vorzuweisen. Die LINKE hat immerhin 51 Prozent. Die schlechte Nachricht folgt sogleich: Nur jeder achte Wahlberechtigte (oder gut jede sechste Wählerin) setzte, wären Sonntag Wahlen, sein oder ihr Kreuz bei der SPD. Die Lücke zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit will nicht schrumpfen - allen Mühen zum Trotz, das »soziale Profil« gegenüber der Union auch in der Regierungskoalition zu schärfen.
Manche meinen nun, da müssten erst die alten Gesichter in der Parteiführung weichen, bevor ein Kurswechsel glaubhaft sei. Andere setzen hinzu, dass die Partei »die Arbeiter« wieder entdecken müsste. Beides wird sozialdemokratischer Politik nicht entscheidend auf die Füße helfen. In den politischen Hochzeiten der SPD, in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, zählte knapp die Hälfte der Erwerbstätigen zu den Arbeitern. Nur etwa die Hälfte wählte auch die SPD. Anschließend war sie Opfer ihres eigenen Erfolgs. Entscheidend trug sie dazu dabei, den massenhaften sozialen Aufstieg aus der Arbeiterklasse zum Angestellten und in ein bescheidenes bürgerliches Lebensführungsmodell auf dem (zweiten) Bildungsweg zu ermöglichen.
Mittlerweile stellen »Arbeiter« nur noch gut ein Sechstel der Erwerbstätigen, gut zwei Fünftel gehen gar nicht wählen. Zur »Arbeiterklasse der Gesellschaft« zählen nur noch 16 Prozent der Deutschen ihren Haushalt, zur »unteren Mittelschicht« 14 Prozent. Politische Mehrheiten sind heutzutage ohne klassen- beziehungsweise schichtenübergreifende politische Anliegen nicht möglich.
Gleichzeitig erodierte das politische Vertrauen in Verlässlichkeit und Durchsetzungskraft sozialdemokratischer Politik. Anfang der 1980er Jahre konnte sie das Versprechen, durch staatliche Politik für Vollbeschäftigung sorgen zu können, nicht mehr einlösen. Mit einer Kampagne gegen zu hohe Staatsverschuldung siegte in Zeiten struktureller Massenarbeitslosigkeit eine bürgerliche Mehrheit. Knapp eine Generation später, auf einem erneuten Höhepunkt der Arbeitslosigkeit und damit sozialen Schutzbedürftigkeit, wurde das sozialstaatliche Schutzversprechen, zumindest den sozialen Status als Arbeitnehmer zu erhalten, zurückgenommen.
Damit nicht genug: Im Windschatten des Mindestlohns verbreitete sie an Niedriglöhner die Botschaft, dass mehr als »das Mindeste«, also sozialer Aufstieg, wohl nicht drin sein wird. Die Zustimmung zur »Schuldenbremse« und »Schwarzer Null« zerschlug zuletzt noch das Instrument, mit Investitionen in öffentliche Infrastruktur Wege aus dem neuen Dienstleistungsproletariat zu eröffnen und unterschiedliche Wählerschichten gegen die Vermarktlichung des Sozialen zusammenzuführen.
All das hat viel mit sozioökonomischem Wandel und veränderten Kräfteverhältnissen und wenig mit Verrat und Unvermögen zu tun. Die verbreitete Klassenerfahrung und das Ergebnis langjährigen sozialen Lernens auch in der sozialdemokratischen Welt lautet: Gegen die Übermacht des Kapitals können erreichte Standards nicht bewahrt werden. Soziale und demokratische Politik wieder attraktiv und mehrheitsfähig zu machen, wird daher nicht von heute auf morgen gelingen und den viel beschworenen langen Atem benötigen.
Die Kämpfe gegen Mietenwahnsinn zeigen, wie niedrig die vermeintlich konfliktträchtigen kulturellen Schranken zwischen sozialen Milieus werden können. Indes, die strukturelle Krise sozialdemokratischer Politik hat in allen europäischen Staaten ihr zu Hause. Schwer vorstellbar, dass sie ohne ein europäisches Projekt mit einem ethisch-sozialen Rahmen, der unterschiedliche Klasseninteressen zusammenführt, überwunden werden kann.
Worum es dabei gehen könnte, lässt sich in zwei Fragen fassen: Was kann und muss für ökologisch und sozial verträgliche Vollbeschäftigung getan werden, die zumindest globale Ungleichgewichte nicht verschärft, sondern dazu beiträgt, »das Überleben zu sichern«, wie Willy Brandt einst programmatisch formulierte? Wie kann man auch als Paketzustellerin und nicht nur als »Kreativer« ein gleichberechtigtes, gelungenes und sozial anerkanntes und wertgeschätztes Leben führen?
Ohne Antworten wird sich die Lücke nicht schließen lassen.
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